Während ich die Verwüstung unseres Gartens durch den Sturm anschaue, geistert mir ein Satz durch den Kopf: Jeder hat ein Recht auf Unvernunft. Wie kommt er in meine Gedanken, gerade jetzt? Wieder lasse ich meinen Blick über den Garten schweifen. Äste, Schilf, meine auf dem Kopf liegende Blauregenpergola – alles liegt kreuz und quer herum. Ein Werk der Zerstörung. Plötzlich vertreibt eine Vogelstimme die beeindruckende Stille nach dem Sturm. Ein tapfer pfeifender Spatz. Nach dem Sturm ist vor dem Sturm. Jetzt gerade nimmt der Wind wieder Fahrt auf. Noch immer beeindruckt von seiner ungebändigten Kraft, frage ich mich, ob Wind vernünftig ist oder unvernünftig. Wie ich auf diese Verknüpfung komme? Nun, ich bin nicht auf sie gekommen, sondern sie war einfach da. Intuitiv, und jetzt setze ich mich mit ihr auseinander.
Zukunft zu erschaffen, braucht nicht nur viel Energie, sondern ist von vielen Entscheidungen abhängig. Ohne Zweifel entsteht Zukunft aus der Gegenwart. Die alles entscheidende Frage jedoch ist, wohin sich dein Leben bewegen soll. Lass uns am Anfang beginnen. Solange du klein warst, haben deine Eltern für dich entschieden. Dann wurdest du in die Entscheidungen einbezogen. Und irgendwann musstest du entscheiden, was du werden wolltest. Daraufhin musstest du entscheiden, wo du leben wolltest, und dann musstest du entscheiden, mit wem du leben wolltest. Ziemlich viele Entscheidungen. Und jede ist potenziell angstbesetzt. Ganz einfach, weil sie falsch sein kann.
Ein neues Jahr. Das dritte mit Pandemie. Wohin wird die Reise gehen? Oder: Wohin kann sie gehen? Zumindest diese Frage kann ich beantworten. Sie kann überall hingehen. Überall ist ziemlich groß, und schlagartig fühle ich mich in die Eingangsdielen der Bauernhäuser meiner Kindheit zurückversetzt. Sie waren auch ziemlich groß. Ich erinnere mich daran, wie einschüchternd sie auf mich wirkten. Der Eingang bestand aus mächtigen Türen, die allein mit ihren Rundbögen immer Ehrfurcht in mir erzeugten. Bis heute. Dahinter war es dunkel, weil der Lichteinfall für die Dielen nur von der Eingangstür kam. Wenn sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah ich einige weitere, geschlossene Türen, und jede konnte zu meiner Freundin führen oder ganz woanders hin.
Beim letzten Mal habe ich über eine menschliche Zukunft geschrieben. Heute schreibe ich über Wünsche und Wunder. Ich finde es passend, denn Weihnachten steht vor der Tür – das Fest der Liebe und der Wunder. Zumindest war es das einmal. Und was bräuchten wir mehr in Zeiten der Pandemie mit der vierten Welle? Weihnachten ist nicht nur das Fest der Kinder. Es erinnert uns daran, wie die Welt sein könnte. Zugewandt, gemeinsam, miteinander.
Meine Suche nach einem Zukunftsentwurf dauert nun schon ein Jahr und es ist kein Ende in Sicht. Ich suche weiter. Die Krise hält an und auch die Fragen bleiben. Damit kann ich leben, sogar gut. Eine eindrucksvolle Erkenntnis. Ich mag Veränderung und ich mag Evolution. Mag ich deswegen auch Krisen? Ich glaube nicht, aber Krisen sind ein Bestandteil des Lebens, und man muss mit ihnen umgehen. Wann aber folgt der Wendepunkt, den das Wort Krise eigentlich meint? Die Medien erzeugen Krisenstimmung. Die Umweltkrise, die ökologische Krise, die Energiekrise und manche mehr. In mir erzeugt das Widerstand. Ich will nicht den Weltuntergang sehen, sondern danach suchen, was eine Verbesserung darstellt. Je mehr ich in Problemen denke, desto mehr Probleme erschaffe ich. Aber Schönreden hilft auch nicht. Also was tun?
Eine Zukunft ohne Risiko – oder: Die eigene Haut riskieren
Bei meiner Suche nach positiven Zukunftsentwürfen bin ich auf ein „neues“ Wort gestoßen. Es heißt Risikoaversität. Im Prinzip ist damit das Prinzip der Risikoscheu gemeint. Es beschreibt den Versuch, sein Leben und Handeln möglichst risikoarm zu gestalten. Dieses Prinzip haben wir in unserer Gesellschaft perfektioniert.
Nach Phasen der Dunkelheit kommt immer auch wieder Licht. Aus unserer Zerbrechlichkeit heraus werden wir stark, wenn wir sie genau anschauen. Unglaublich und doch passiert es. Gerade jetzt!
Antifragilität entsteht in jeder Lebenslage. Auch in einem übervollen Zug in Zeiten von Corona. Fahren wir alle durch die Dunkelheit? Oder fahren wir alle zurück ins Licht?
Beim letzten Mal habe ich mir die Gräben angeschaut, die sich in Zeiten der Pandemie zwischen Menschen auftun. Heute beschäftige ich mich mit den Eindrücken von der Berliner Mauer. Vor 60 Jahren wurde sie gebaut. Damals dachten viele, dass sie nur für ein Jahr da wäre. Dass man so etwas nicht tun würde – ein Land in zwei Teile spalten. Und dann geschah es doch. Weil Menschen so sind.
Wie können wir die Kluften überbrücken, die in den letzten Monaten der Pandemie in unserer Gesellschaft entstanden sind? Wie können wir kommunizieren, statt Grabenkriege unserer Meinungen zu führen? Es gibt einen Ort dafür: den Raum des Nichtwissens.
Sprachliche Formen haben mehr Kraft als wir glauben. Durch wiederkehrende Sprachwendungen können wir dafür sorgen, dass wir unsere Kraft und unser Empfinden selbst gestalten.
Beim Gehen kann man gut denken und auch verschiedene Fragen durchspielen. Beispielsweise diese: Wie können die gesellschaftlichen Folgen der Pandemie aufgefangen werden? Welche Visionen von einer Welt danach lassen sich denken? Geht es um dramatische Veränderungen, oder welchen Charme könnte eine Rückbesinnung auf das Wesentliche haben?