Das Ganze und seine Teile

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Inhaltsverzeichnis

Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile

Ein einfaches Prinzip mit einigen Herausforderungen. Vereinfacht dargestellt: Im Bild erkenne ich ein Auto. Und nicht nur das, ich erkenne einen Käfer. Nun stelle ich mir die Frage: Wann wird ein Auto zum Auto? Mit dem letzten Rad – oder dem Motor? Ist es ein Auto, wenn ich darin sitzen und damit fahren kann? Macht der Treibstoff das Auto zum Auto? Oder entscheide ich, dass es ein Auto ist? Was bedeutet es, wenn ich auch in den rostigen Resten noch einen Käfer erkenne – außer, dass das Marketing gut funktioniert hat?

 

Fragen wie diese stellt man sich herkömmlich nicht. Aber sie fallen mir ein, wenn ich mir Gedanken über Spiritualität und Wissenschaft mache. Denn auch hier geht es darum, ob die beiden Teile erst gemeinsam ein ganzes Bild erschaffen oder ob sie den Anspruch haben dürfen, das auch allein zu leisten.

 

Wissenschaft ist eine Illusion

In einem meiner Vorträge habe ich es so formuliert: Wissenschaft ist eine Illusion, die Wissen schafft. Die Illusion besteht darin zu glauben, Wissen bedeute, dass wir alles verstehen. Sie entsteht aus der Haltung heraus, etwas nur dann als richtig anzuerkennen, wenn es bewiesen ist. Dinge auseinanderzunehmen ist Wissenschaft. Und es stimmt schon: Je mehr Details ich verstehe, desto genauer kann ich etwas erklären. Doch die Dinge sind ja schon vorher da und sichtbar – auch, wenn sie nicht en détail untersucht sind.

 

Wohin kann diese Überlegung uns führen?

 

Wissenschaft und Wahrheit

„Wissenschaftlich bewiesen” ist gleichbedeutend mit Wahrheit und Qualität. Alles andere scheint nicht zu stimmen oder ist zumindest anzuzweifeln. Eine immense Beschränkung des Blicks auf die Welt. Natürlich, die Wissenschaft liefert bewiesene Daten, auf deren Grundlage Fachleute kontrovers diskutieren können. Doch mir ist wichtig zu erkennen, dass jede dieser Diskussionen auch Spekulationen enthalten kann, die als solche zu kennzeichnen sind. Wissen muss nicht Gewissheit sein.

 

Unterschiede zwischen Wissenschaft und Spiritualität

Schaue ich auf Naturvölker, dann ist alles spirituell. Jeder Tropfen Wasser, jede Pflanze oder die Luft zum Atmen. Alles ist Geist, und ohne den geht es nicht. Soll das wirklich einfach unwichtig sein? Oder leben wir nur zu weit von diesem Gedanken entfernt? Dabei gibt es die Wissenschaft in der Form, wie wir sie kennen, noch gar nicht so lange.

Betrachte ich die Unterschiede zwischen Spiritualität und Wissenschaft genauer, dann sehe ich da nicht viel. Beide Richtungen bemühen sich um Erkenntnis. Beide hinterfragen die Wirklichkeit. Während die Wissenschaft detail- und beweisorientiert ist, sucht Spiritualität den Blick auf das Ganze – das große Ganze. Sie versucht, sich den Geheimnissen des Lebens zu nähern. So gesehen entsteht in mir der Eindruck, als könnten wir uns mit der bloßen Fokussierung auf die Wissenschaft keine Geheimnisse oder nichts Großes leisten. Doch welchen Preis zahlen wir dafür?

 

Darf ein Wissenschaftler spirituell sein?

Dann wieder fallen mir große Physiker ein,die alle auch spirituell waren. Einstein und seine Kollegen führten ausgiebige Schriftwechsel darüber, was die Entdeckung der Atome für gesellschaftliche Konsequenzen haben könnte. Sie fragten sich, ob sie nicht eine Überforderung darstelle und ob es nicht besser wäre, die Veränderung des Weltbildes durch Atome und Quanten geheim zu halten. Oder David Bohm, der Quantenphysiker. Er tauschte sich mit dem indischen Philosophen Krishnamurti aus. Darüber gibt es ein Buch: „Physik und Freiheit“. Und gehen nicht jeder großen wissenschaftlichen Entdeckung zuallererst einmal Ahnungen, Intuitionen, Ideen jenseits allen Wissens voraus, die dann geprüft werden? Auch darüber hat Einstein geschrieben. Das führt mich zu der nächsten Frage:

 

Können wir uns Spiritualität leisten?

Ich glaube sogar, dass wir sie uns leisten müssen, um dem Geheimnis des Lebens näherzukommen. Wir können nicht darauf verzichten, das Ganze zu bestaunen, denn nur das Konzept dahinter lässt aus den einzelnen Teilen mehr als ein unbelebtes Puzzle werden. Und es ist unser Geist, der das ermöglicht.

 

Insofern ist es für mich nur folgerichtig, die verschiedenen Sichten auf die Welt zu verbinden und sie sich ergänzen zu lassen. Wissenschaft und Spiritualität stellen zwei Pole eines großen Spektrums dar. Wir brauchen sie beide, um die Welt in ihrer Ganzheit erfassen zu können. Das große Ganze wiederum verdient noch einen weiteren Gedanken.

 

Das große Ganze braucht Vielfalt

Das große Ganze bietet uns nicht nur Vielfalt, es braucht sie auch. Ein wunderbarer Gedanke, um eine Brücke zur Biologie zu schlagen. In der Natur sind alle Systeme von ihrer Divergenz abhängig, also vom Grad ihrer Verschiedenheit. Je höher die Divergenz einer Population oder einer Gattung ist, desto größer sind ihre Überlebenschancen. Das ist ein biologisches Prinzip. Ein anderes Beispiel ist das menschliche Mikrobiom. Es macht uns gesünder, wenn es eine hohe Divergenz aufweist, also eine größere Anzahl verschiedener Bakterienstämme zur Verfügung stehen. Je weniger vielfältig wir uns verhalten, essen oder auch denken, desto weniger vielfältig wird das Mikrobiom – und damit verliert unser Immunsystem an Schlagkraft.

 

Die Kraft des Dialogs

Es ist so einfach und gleichzeitig verblüffend. Nicht nur, dass hier ein philosophischer Gedanke durch eine wissenschaftlich fundierte Untersuchung bestätigt wird. (Ja, die beiden funktionieren tatsächlich zusammen!) Verblüffend und faszinierend ist auch, dass die Erkenntnis dieses Dialogs ihn selbst einzufordern scheint: Wenn Divergenz ein natürliches Prinzip ist, dann ist es doch nur konsequent, auch beim Denken und Beobachten divergent zu sein – und das bedeutet eben auch, wissenschaftliche Beweise und spirituelles Staunen im Dialog zu gestalten.

 

Wie langweilig wäre unsere Welt ohne Unterschiede? Ohne sie gibt es keine Kontraste, und ohne Kontraste kann man wenig erkennen – auch das große Ganze nicht. Es ist an uns, mit und durch diese Unterschiede zu wachsen. Denn: Ohne Unterschiede entsteht keine Evolution. Schon gar keine des Bewusstseins.

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