Oftmals stand ich verzagt herum, trippelte ein wenig auf der Stelle, und dann startete ich durch. Meistens geradeaus, und mit der Zeit lernte ich, dass geradeaus in diesen großen Dielen in der Regel der Weg zum Wohnbereich war. Du merkst, ich habe einige dieser Bauernhäuser erlebt. Als Kind dachte ich: Geradeaus ist richtig. Später dachte ich: Manchmal ist ein Umweg besser. Und noch viel später: Wer sagt, dass es ein Umweg ist? Heute denke ich: Mal sehen, was dieser Weg bringt.
Mit der Realität nach der Pandemie ist es ähnlich. Welche Tür wollen wir öffnen? Und was oder wer erwartet uns dort?
Der Jahresanfang ist für mich immer mit einem Neustart verbunden. Ich überprüfe das alte Jahr mit seinen Erkenntnissen auf Tragfähigkeit und variiere meine Möglichkeiten. Nach den Erfahrungen des letzten Jahres wären es wohl Beschränkungen und mein Umgang mit ihnen, die meine Wirklichkeit im kommenden Jahr gestalten würden. Nicht wirklich interessant.
Worauf soll ich meine Aufmerksamkeit lenken, wenn ich eine bessere Zukunft erschaffen will?
Manche Menschen machen so viele Pläne für die Zukunft, dass sie versäumen, eine gute Gegenwart zu leben. Ihr Blick geht weg von den Menschen und der Welt um sie herum, hin zu einer Zukunft, die sie akribisch planen. Ich bin oft gefragt worden, wo ich mich in fünf Jahren sehe. Seltener danach, wie ich mich in zwanzig Jahren sehe. Seltsamerweise war meine Antwort immer gleich: Wie jetzt, nur anders verteilt. Ich sehe mich pulsierend vor Leben, neugierig, verbunden mit anderen Menschen, wach und stets in Bewegung. Was sich mit der Zeit verändert hat, ist nur die Erkenntnis, dass ich die schönen Dinge am besten erkennen kann, wenn ich langsam gehe. Meine Gedanken preschen schnell voraus. Sie eilen an der Schönheit des Lebens vorbei, die ich immer erkennen könnte. Aber eben nur, wenn ich langsam genug bin.
In den letzten Tagen war meine Welt voller Eis. Das Wasser des Brunnens in meinem Garten erstarrte zu bizarren Tropfen- und Zapfenformen. Abstrakte Kunst der Natur. Anziehend. Ich halte inne. Bestaune diese Welt und ihre Fähigkeit, still zu stehen. Das ist Winter für mich. Ein großer Teil der Welt schläft. Die Wintersonnenwende läutet die Raunächte ein. Es ist die Zeit, die losen Fäden des Jahres zu verweben. Altes abzuschließen und nur mit Neuem an den Start zu gehen. Um Mitternacht machen mein Mann und ich einen Spaziergang in der Dunkelheit. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten zusammen in dieser Nacht. Jeden Schritt setzen wir mit Bedacht. Das Geräusch des Grases ist vertraut. Ich stehe draußen in der klirrenden Kälte und lasse mich vom vollen Mond beleuchten. Wir atmen diese Stille, verbinden uns mit dem, was da ist. Ruhe und Zufriedenheit. Eine besondere Nacht. Traditionell spreche ich einen Wunsch aus: Ich wünsche mir Freiheit. Mein Mann hat keinen Wunsch, aber er fühlt Frieden. Beide Qualitäten gehören für mich in eine schönere, neue Welt. Könnte sie vielleicht schon im Jetzt beginnen, damit wir sie dann gut geübt haben, wenn es so weit ist? Das würde mir gefallen.
Am nächsten Morgen ist es kälter und die Welt noch weißer. Immer noch kein Schnee, nur sein Geruch liegt in der Luft. Ich schaue auf die frostbedeckten Felder, Dächer und Bäume, atme die helle, klare Luft. Jeder Schritt erzeugt ein leises Knirschen. So kann es bleiben. Die Welt steht sichtbar still.
Mein Blick bleibt an einem Baum vor mir hängen. Schwarzer Stamm, schmal, mit Weiß umrandet, blattlos und mittendrin etwas, das meine Aufmerksamkeit fesselt. Es blitzt gelb-rot unter dem Frost hervor. Rote, pralle Äpfel. Kann das sein? Natürlich, jemand hat sie nicht gepflückt. Sie erinnern mich an das Leben, den Herbst, die Ernte. Diese Ernte gebührt nun einer Amsel. Sie pickt emsig und legt das Innere des Apfels frei. Selbst dieser aufgebohrte Zustand hat eine seltsame Schönheit. Manch einer könnte sagen: Welch eine Verschwendung, die Äpfel einfach am Baum zu lassen! Mir fällt ein, dass es vielleicht nur die Äpfel sind, die keiner brauchte und die jetzt den Vögeln beim Überleben helfen. Auch das wäre eine Qualität, die in einer schönen, neuen Welt vorkommen sollte – finde ich. Die Aufmerksamkeit anderen Geschöpfen gegenüber und nicht die rücksichtslose Ausbeutung aller Ressourcen.
So gerne würde ich in dem Gedanken und meinem Märchen in Weiß weiter schwelgen. Doch ein Anruf reißt mich aus meiner Träumerei. Eine Patientin. Ihre Angstzustände werden erneut durch die widersprüchlichen Informationen zur aktuellen Krise um Omikron getriggert. Unwirklich, angesichts der Schönheit, die mich umgibt. Ein Missklang – scheinbar aus dem Nichts.
Missklänge sind immer Teil einer Krise. Gegensätzliche Meinungen können einen Missklang erzeugen. Aber müssen sie das? Ich erinnere an meinen letzten Blog. Gemeinsam divergent denken – das könnte einen Wohlklang erschaffen. Einen, der uns überall hinbringen könnte. Wenn nicht die optimierte Version von Trägheit namens Sicherheit uns veranlassen würde, auf Einzelelementen zu beharren und nicht mehr auf die Gruppe zu schauen, die anderen Menschen, die auch hier leben. Ich bin fest davon überzeugt, dass Stammesbewusstsein ein wesentliches Element ist, das in der neuen Welt etabliert werden muss.
Als Stamm würden wir Kranke nicht allein lassen, selbst wenn wir sie isolieren müssten, bis sie genesen sind. Wir würden Wege finden, sie wissen zu lassen, dass wir da sind und miteinander verbunden, gerade wenn es ums Sterben geht. Wir würden sie auch dann versorgen, wenn wir denken, sie hätten sich anders verhalten sollen, ohne Schuldvorwürfe. Fachleute würden nicht alles übernehmen müssen, sondern jeder wäre in der Lage, grundsätzliche Unterstützung zu leisten, und würde das auch tun. Bis dahin, den Fachleuten zuzuarbeiten. Eine interessante Form der Bürgerpflicht.
Keiner würde fallengelassen, weil das in jedem Fall den Stamm schwächt. Jeder wäre wichtig und würde gehört. Es ginge um Integration, bei aller Divergenz.
Wenn jemand in Not gerät, wenden wir uns einander zu. Bedingungslos. Wir würden gemeinsam über Lösungen nachdenken, weil wir alle betroffen sind. Immer. Wir würden die Schwere einer Pandemie gemeinsam tragen, wodurch sie sich leichter anfühlt. Eine solche Krise würde uns nicht spalten, sondern verbinden. In meiner Vorstellung einer Welt nach der Pandemie wären Clowns und Kabarettisten in jedem Krankenhaus. Die Lektüre von aufmunternden Büchern wäre Pflicht. Podcasts und Videos hätten den Auftrag, sich mit den Möglichkeiten auseinanderzusetzen, statt nur gegen Verbote zu protestieren, ohne eine Alternative zu bieten. Das alles wäre selbstverständlich, weil mein Bewusstsein auf das Wohl des Stammes ausgerichtet wäre und damit auch auf mich selbst.
Von dieser Freiheit träume ich. Eine Freiheit, die darauf beruht, dass etwas nur wirklich gut ist, wenn es für alle gut ist, bei aller Unterschiedlichkeit. In der Spieltheorie nennt man das „Nash-Gleichgewicht“. Jeder Spieler denkt alle Möglichkeiten durch und entscheidet sich für die Variante, die alle vorankommen lässt. Die Herausforderung wäre, die verschiedenen Interessen mit einem großen gemeinsamem Ziel zu verbinden. Welches Ziel könnte das sein?
Ich frage Dich also: Welche Richtung willst Du nehmen? Wen nimmst Du mit? Was lässt Du zurück? Und welchem Stamm willst Du angehören?