Nichtwissen

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Am Ende des Waldspaziergangs in meinem letzten Blog drängte sich eine Frage in den Vordergrund: Wie können wir die Kluften überbrücken, die in den letzten Monaten der Pandemie in unserer Gesellschaft entstanden sind? Damals entschied ich mich, dieses Fass nicht zu öffnen. Heute mache ich es auf. Inzwischen hatte ich genug Zeit, mich von der Schönheit der Natur stärken zu lassen. Auf der Meta-Ebene habe ich den Mut, mich auf glitschigem Untergrund zu bewegen. Und dieses Mal ist es keine Frage des guten Schuhwerks. Vielmehr gilt es, sich nicht in Gedanken und Fragen zu verlaufen, die kein Ergebnis bringen. Vor allem, weil jeder Frage ein nicht unerheblicher Teil Nichtwissen als Antwort gegenübersteht.

Und täglich grüßt das Murmeltier

Die Dinge wiederholen sich. Soeben schien die Gefahr gebannt, da eröffnet eine weitere Mutation erneut das Krisenfeld. Bereits befreite Gebiete bekommen wieder das Label Hochrisiko. Wie sollen wir damit umgehen? Wird es eine dieser Never Ending Stories, eine reale Neuauflage von Und täglich grüßt das Murmeltier? Ich erinnere mich an Bill Murray, wie er im gleichnamigen Film 1993 unter der Regie von Harold Ramis die Verwandlung vom Kotzbrocken zum geläuterten Menschen durchläuft. Dazu sitzt er in einer Zeitschleife so lange fest, bis er alles gelernt hat, was es zu lernen gab. Der Film galt als Komödie und ich habe herzlich gelacht – damals.

Beklommenheit angesichts einer Zeitschleife

Heute empfinde ich Beklommenheit, wenn ich an die Zeitschleife denke, denn irgendwie sind all die Wiederholungen, die ich in dieser Pandemie erlebe, für mich mit dem Festsitzen in einer Zeitschleife vergleichbar. Auch im letzten Jahr schien die Gefahr gebannt, auch damals lebten alle wieder befreit. Jeder befand, dass es genug sei mit den Beschränkungen. Und dann ging es wieder los, im Herbst, nur viel schlimmer und länger. Wieder Hamsterkäufe, wieder Angst, die immer gleichen Schlagzeilen und auch der immer gleiche Überdruss. Genau genommen ist es auch die fehlende Aussicht auf ein Ende dieser Wiederholungen, die mich beklommen macht.

Neulich fragte mich eine junge Patientin, wie lange ich wohl glaube, „dass das noch dauert“. Eine gute Frage einer Sechzehnjährigen. Sie gilt als körperlich und geistig behindert und stellt diese Frage in der für sie typischen Unbefangenheit. Meine spontane Antwort war: „2025.“

Sie riss entsetzt die Augen auf, simulierte ein körperliches Zusammenbrechen und atmete frustriert aus. „Meinst du das ernst?“ Ich schaute sie an und stellte überrascht fest, dass ich das bejahen musste. Eigentlich hatte meine Antwort ein Witz sein sollen. Das jedenfalls hatte nicht geklappt. Ihr Warum schwebte im Raum, und ich schuldete eine Antwort. Hier ist sie, und genau so habe ich sie dem jungen Mädchen gegeben: „Weißt du, eigentlich weiß ich es nicht. Keiner weiß, wie lange das noch dauert. Aber wenn ich es weit in die Zukunft schiebe, dann freue ich mich die ganze Zeit, wenn sie früher endet, diese Pandemie. Wenn ich aber den Zeitpunkt zu nah dran festlege, dann bin ich immer enttäuscht, weil es immer noch nicht so weit ist.“

Jetzt nickte sie. „Klingt irgendwie gut“, sagte sie, und darauf: „Trotzdem schwierig. Das dauert einfach zu lange.“ Dann lachten wir. Das einte uns, obwohl unsere Meinungen sich sicher unterscheiden und auch unsere Wirklichkeit nicht dieselbe ist. Doch da ist es – das Nichtwissen, mit seiner magischen Kraft. Ausgesprochen und stillschweigend angenommen. Grundlage eines möglichen, fruchtbaren Austausches.

Grabenkriege statt Kommunikation

Jetzt entsteht das Wort Grabenkrieg in mir. Schwere Zeiten im Schlamm. Nichts bewegt sich. Grenzlinien verhärten sich. Was, wenn sich ein solcher Zustand in einer Familie oder im Freundeskreis einstellt, weil sich unterschiedliche Haltungen gegenüber Masken, Impfungen, Desinfektion oder Berichterstattung verhärtet haben? Schwierig.

Im größeren, gesellschaftlichen Zusammenhang finde ich dasselbe vor. Da gibt es die Gruppe, die nichts mehr mit dem Thema zu tun haben will, die sich zurückzieht und einfach ihr Ding macht. Dann gibt es die Ängstlichen, die kaum wagen, sich frei zu bewegen. Eine andere große Gruppe will das alte Leben zurück, die Zweifler stellen alles in Frage, was passiert ist. Jede Gruppe verteidigt ihre Haltung unerbittlich und kann nur schwer mit der anderen Meinung umgehen. Auch ein Grabenkrieg. Einer ohne Kommunikation. Könnte es sein, dass diese Gräben aufbrechen, einfach, weil sie heimlich schon immer da waren?

Alle haben eines gemeinsam: das Nichtwissen. Eine Basis, auf der man diese Gräben überbrücken könnte? Wir kennen die Zukunft nicht, keiner von uns. Aber wir könnten eine erträumen, könnten sie gestalten mit unserem Jetzt. Mit Respekt, Toleranz und der Gewissheit, dass niemand sagen kann, was wirklich das Beste ist. Denn welche neuen Erkenntnisse es auch geben mag: Es wird immer eine gehörige Portion geben, die uneinschätzbar bleibt – bis wir irgendwann Gewissheit haben. Und auch dann bleibt wieder oder immer noch eine gehörige Portion Nichtwissen übrig. Eine vollständig datenbasierte, sachliche Haltung gibt es nicht.

Jede Meinung ist ab einem bestimmten Punkt immer nur eine Empfindung, ein Bauchgefühl – also etwas Emotionales.


Nichtwissen – ein heile(nde)r Raum der Begegnung

Nichtwissen ist eine Haltung den Menschen und der Welt gegenüber, ein Raum, der vieles heile sein lässt, was sich nicht heil anfühlt. Im Fachbuch Hochsensibilität haben meine Ko-AutorInnen und ich viel darüber geschrieben. Der Raum des Nichtwissens ist nicht nur im Kontext von Hochsensibilität spannend. Wenn wir von dort aus starten, dann können wir uns intensiv begegnen. Uns aufmerksam austauschen und so durch eine schwere Zeit gehen – gemeinsam, mit aller Unterschiedlichkeit. Eine Utopie? Nun. Jede Entwicklung hat mal als Utopie angefangen. Und: Können Menschlichkeit oder Miteinander wirklich eine Utopie sein?

Waffenruhe

Ich muss an den Weihnachtsfrieden denken, den Christmas Truce, oder auch Weihnachts-Waffenruhe genannt. Im Jahre 1914 entschieden sich Soldaten an einigen Abschnitten der West- und der Ostfront, ohne Autorisierung am 24. Dezember und einige Tage danach keinen Schusswechsel zu führen. Sie krochen aus ihren Gräben und feierten gemeinsam Weihnachten, sangen zusammen und waren froh, noch am Leben zu sein. Jeder von ihnen wäre sicher lieber zu Hause gewesen, aber der Krieg sollte noch jahrelang dauern. Spontane Fraternisierung wurde dieses Phänomen in den Geschichtsbüchern genannt.

Die große Chance

Bringt es die Krise nur an den Tag? Ist sie vielleicht die große Chance auf Veränderung, auf neue Umgangsformen und einen Wandel, der längt überfällig ist? Die meisten Menschen wollen den Fortschritt, die wenigsten wollen den Wandel. Noch dazu einen, der mit Nichtwissen als neuem Normal ausgestattet ist. Dabei ist es eigentlich nur eine wesentliche Erkenntnis, die sich durch all diese Überlegungen erschließt: Am Ende ist es eine emotionale Entscheidung ohne sichere Datenlage, die den Wandel einleitet. Die zugrundeliegende Kraft dafür aber ist Neugierde – und die ist definitiv im Menschen angelegt. Nutzen wir sie gut, um die Kluften zu überbrücken. Gemeinsam.

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