Vernunft ist eine Frage der Definition. Ist sie rational oder intuitiv? Im Sinne einer Erkenntnis ist Vernunft eher rational. Aber auch Intuition kann zu Erkenntnis führen, bevor wir sie als belegte Einsicht deklarieren. Viele meinen, vernünftig sei das, was die Mehrheit denkt. Obwohl dieser Gedanke naheliegend erscheinen mag, spüre ich, wie ich mich weigere, ihn anzuerkennen. Mein Widerstand ist energisch, wie ein Sturm, der alles durcheinanderwirbelt.
Kann Sturm vernünftig sein? Er verteilt alles neu und bringt Unelastisches zum Bersten. Mein Blauregen dagegen hat sich verbogen, ohne zu brechen. Anders die mit ihm umwundene Pergola, sie hat Schaden genommen, weil sie weniger elastisch ist. Vielleicht sollte ich sie nach der Reparatur anders aufstellen? Eine neue Ordnung wird möglich. Dieser Sicht folgend, würde Wind schlussendlich aufräumen. Aufräumen wiederum gilt als vernünftig und es spricht sehr viel dafür, dass diese Einsicht stimmt. Demzufolge wäre Wind also vernünftig?
Mein Widerstand, Vernunft als Mehrheitserkenntnis zu begreifen, und mein gleichzeitiges Bemühen um eine neue Bewertung des Begriffs tanzen miteinander. Irgendwie auch schön, diese Kräfte in mir zu spüren. Aber nochmal zurück zum Anfang. Worum geht es wirklich? Um das Recht auf Unvernunft, um den Umgang mit dieser Eigenschaft in uns oder um eine neue Vernunft?
Gibt es auf dem Weg zu vernünftigen Entscheidungen nicht immer auch eine kleine Phase unvernünftiger Einwände? Ich denke an den Geburtshelfer Ignaz Semmelweis. Das ist der Mann, der als erster Arzt ein Hygienekonzept forderte, um Mütter vor dem Kindbettfieber zu schützen. Seine These, Ärzte seien die Überträger der Erreger, wurde von seinen Kollegen als spekulativer Unfug verlacht. Semmelweisʼ einfache Forderung, sich die Hände zu waschen, erscheint aus heutiger Sicht vollkommen vernünftig. Damals, im 19. Jahrhundert, war sie es nicht. Sie galt als irrational. Semmelweis indes blieb unvernünftig, und heute wird er als „Retter der Mütter“ benannt.
Wenn Vernunft auch vom zeitlichen Kontext abhängig ist, kann das ein Beleg für das persönliche Recht auf Unvernunft sein? Ich spüre, wie mich eine gewisse Aufregung erfasst, wie immer, wenn ich eine Idee habe. Ja, so könnte es gehen. Ich bin gespannt, ob Du meiner Idee folgen magst.
Weil Unvernunft immer das Potenzial enthält, Neues entstehen zu lassen, sollten wir sie einladen und nicht verurteilen. Besser würde mir gefallen, wir könnten Unvernunft als Teil der Vernunft definieren. Vielleicht müssen wir eine neue Begrifflichkeit erschaffen, um die neue Vernunft zu erklären? Das könnte so klingen: „Unvernunft ist die Voraussetzung, Erkenntnisse zu prüfen und neue Erkenntnisse zu erhalten. Jeder hat das Recht auf Unvernunft und die gleichzeitige Verpflichtung, sich der Tücke dieser Vorgehensweise bewusst zu sein.“
Und schon komme ich wieder dort an, wo ich fast immer lande. Es geht um Bewusstsein. Eines, das uns erlaubt, Unvernunft als mögliche Inspiration zu begreifen und auch hier gemeinsam divergent zu denken.
Je besser es uns gelingt, die Verschiedenartigkeit unserer Wahrnehmung jeweils als Ausschnitt eines ganzen Bildes zu erkennen, desto eher können wir einen Eindruck vom Ganzen erhaschen.
Und das Ganze ist bekanntlich immer mehr als die Summe seiner Teile. Mit dieser Erkenntnis schaue ich nochmal in den Garten.
Alles ist durcheinander und alles hat überlebt. Das hatte ich nicht erwartet, als der Sturm die ganze Nacht tobte. Jetzt kann ich nicht daran vorbeisehen. Während draußen das Wetter weiter wütet, hat meine Suche nach einer Realität nach der Pandemie einen Neuzuwachs bekommen, nämlich das Recht auf Unvernunft und das Wissen darum. Diese Elemente dürfen nicht fehlen angesichts einer Welt, die uns eines deutlich spiegelt: Unsere Fähigkeit zu überleben ist erstaunlich groß – selbst dann, wenn wir uns das nicht vergegenwärtigen. Und damit drängt sich mir eine weitere Zutat auf, die zu unserer Zukunft gehören wird: Die Fähigkeit, nicht alles absichern zu wollen oder zu müssen. Diese geheimnisvolle Kraft nannte man früher Vertrauen.
Mein Blick fällt erneut auf meinen standhaft-biegsamen Blauregen. Vertrauen. Ich frage mich, wohin diese Qualität gegangen ist.