Zurück bleibt ein Koffer
Fast geräuschlos glitt der letzte Nachtzug aus der Halle. Der Bahnsteig war leer, bis auf einen einzelnen Mann. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und starrte dem Zug nach, dessen rote Schlusslichter rasch kleiner wurden. Da fuhr sie hin, seine letzte Chance. Eigentlich hätte er mitfahren sollen, aber beim Einsteigen hatten seine Beine den Dienst versagt. Er brachte es nicht über sich einzusteigen. Er wollte keine Therapie machen, die er möglicherweise nicht überlebte.
Der Zigarettenrauch dehnte sich in seinen Lungen aus. Es tat nicht weh. Das war das Erstaunlichste an der Geschichte: Es tat wirklich nicht weh. Er bückte sich nach seinem Koffer. Wie leicht der jetzt war. Auf dem Weg zu diesem Bahnsteig war er ihm noch tonnenschwer erschienen. Langsam ging er zurück. Seinen schwarzen Mantel trug er offen — wie immer. Für einen 35-jährigen Mann wirkte er zu alt. Es hatte ihm nie besonders viel ausgemacht, für zehn Jahre älter gehalten zu werden. Im Gegenteil, beruflich hatte er daraus immer Vorteile gezogen. Nur jetzt wünschte er verzweifelt, er hätte noch mehr Zeit, wäre einfach jünger und hätte noch alles vor sich. Lässig nahm er einen letzten Zug aus seiner Zigarette und warf sie dann weg. Das fühlte sich gut an, selbstbestimmt.
Seine Gedanken wanderten zurück zum Tag der Urteilsverkündung. Der Arzt hatte nüchtern geklungen, als er ihm die Diagnose mitteilte: „Bronchialkarzinom im fortgeschrittenen Stadium. Machen Sie sich keine Gedanken, Herr Lazarowsky, es wird sehr schnell gehen und Sie werden überwiegend schmerzfrei sein.“
Sein Herz hingegen hatte gerast und er hatte Atemnot verspürt. Da half auch die mitfühlende Hand des Arztes auf seiner Schulter nicht. Während die Verzweiflung sich durch seine Eingeweide fraß, hörte er aus der Entfernung ein hilfloses „Es tut mir leid“. Mit diesem Satz verschwand die Hand und damit auch der leiseste Hauch eines Trostes.
„Was soll jetzt passieren? Gibt es eine Chance?“, hatte er gefragt. Seine Augen hatten sich tief in die des Arztes gebohrt — auf der Suche nach einer gefälligen Antwort.
„Ohne Therapie 6 Monate, mit Therapie vielleicht 12. Wir schlagen Chemotherapie mit eventuell anschließender Bestrahlung vor. Den Rest müssen wir abwarten.“
Dann hatte der Arzt von dem Krebsspezialisten in Freiburg erzählt. Davon, dass die Möglichkeiten heute besser seien als vor einigen Jahren, er trotz des fulminanten Stadiums nicht aufgeben solle, denn manchmal gebe es Spontanremissionen.
„Was sind Spontanremissionen?“, hatte er sofort gefragt.
„Unerwartete Selbstheilungen, die mich immer wieder an Wunder glauben lassen, obwohl sich das mit meinem Beruf nicht verträgt.“ Müde hatte sich der Arzt durch das dunkle, volle Haar gestrichen.
Er fühlte sich für einen kurzen Moment geborgen. Wenigstens war der Mann ehrlich. Damit konnte er umgehen. Also würde er den nächsten Zug nehmen und sich der Behandlung unterziehen.
So war zumindest sein Plan gewesen. Doch jetzt fand er sich mitten in der Nacht auf dem Bahnhof wieder, und ein kurzer Moment hatte seine Pläne komplett verändert. Der Schnipsel eines Aufbegehrens hatte ihn veranlasst, alle Sicherheiten aufzugeben.
„Sie wären ohnehin nur vorgetäuscht“, murmelte er vor sich hin. Was sollte er jetzt tun?
Er schlenderte durch die Nacht. Der Mond leuchtete und zwischen den Sternen funkelten Satelliten. Die Welt täuschte Frieden vor. Nur die Krebszellen in seinem Körper waren im Kriegszustand. Sie führten einen Krieg gegen ihn, und sie würden vermutlich gewinnen.
Die Uhr schlug zwölf Mal — Mitternacht. Er war lange gelaufen, viel länger, als er gedacht hatte. Müde stellte er den Koffer an der Bushaltestelle ab. Beim Einsteigen in den Bus winkte er dem Koffer ein letztes Mal zu. Den brauchte er nicht mehr — er war bepackt mit Dingen, die er in der Klinik gebraucht hätte. Für einen Moment wünschte er sich, er könne sein Leben ebenso abstellen wie den Koffer und neu beginnen. Dieser Wunsch war sein Begleiter für den Heimweg.
Am nächsten Morgen erwachte er und wartete vergeblich auf einen Schmerz in seiner Brust. Es schien unglaublich, dass man etwas so Gefährliches nicht merkte. Seine Augen verfolgten die Muster in der Tapete. Kurz überlegte er, ob es besser wäre, nicht aufzustehen und einfach auf den Tod zu warten. Noch während ihm dämmerte, wie langweilig dieses Warten wäre, kribbelte seine Nase.
Ein Sonnenstrahl hatte sich zu ihm durchgemogelt. Sie wärmte. Wärme hatte ihm in seinem Leben immer gefehlt. Verwundert verfolgte er dem vorwitzigen kleinen Strahl, der sich zu ihm vorgewagt hatte. Es erinnerte ihn an Dalia, die mit derselben Intensität in sein Leben getreten war. Obwohl sie nur drei Jahre älter war als er, machte sie in jedem zweiten Satz Anspielungen auf den Sinn des Lebens. Er sah ihr Lachen vor sich, wenn sie ihren Lieblingssatz sagte: „Heute beginnt der Rest deines Lebens.“
Damals fand er ihn übertrieben, inzwischen hatte er eine erschreckende Bedeutung bekommen.
„Warum nur habe ich diese wundervolle Frau aus meinem Leben verbannt? Grundlos, vielleicht meine ausgeprägte Angst vor Verbindlichkeit?“, murmelte er leise. Dann verlor er sich in den Abgründen seiner Angst vor dem Ende. Dieses Mal konnte er nicht ausweichen. Dieses Mal hatte er keine Wahl. Eine Verabredung mit dem Tod war absolut verbindlich. Er fragte sich, was Dalia an seiner Stelle tun würde.
Vor seinem inneren Auge erschien die grüne Wiese, auf der sie das „Spiel der Wahrheit“ gespielt hatten. Jede Frage begann mit „Was würdest du tun, wenn …?“. Ihre Antwort war gewesen: „Wenn ich unheilbar krank wäre, dann würde ich alles verkaufen, eine Weltreise machen, und in der verbleibenden Zeit würde ich alles tun, was ich wirklich will.“
Sie hatten beide gelacht — fröhlich bei der Vorstellung, was sie alles sehen und erleben würden. Gleichzeitig hätte keiner von ihnen es für möglich gehalten, wirklich dieser Situation gegenüberstehen zu müssen. „Warum so lange warten?“, hatte sie ihn gefragt. Seine Antwort wusste er nicht mehr, sicher etwas Belangloses.
Kurz war er wieder in dem Moment von damals. Unerwartet wuchs diese Erinnerung zu etwas Kraftvollem in ihm heran. Er griff zum Telefon und seine Finger wählten vollkommen selbstverständlich ihre Nummer. Es läutete, dann wurde sein Ruf angenommen.
„Dalia Esperanza.“
Der Klang ihrer vertrauten Stimmer ließ sein Herz höher schlagen. Unvermutet standen Tränen in seinen Augen. Er schluckte.
„Hallo Dalia, hier spricht Luc. Es ist so weit. Ich mache eine Weltreise. Kommst du mit?“
Wie es mit Luc und Dalia weiter geht erfährst du hier:
Luc & Dalia 2: Die Hoffnung stirbt zuletzt
You can also read about Luc and Dalia in English.