Auch wenn unser Gehirn evolutionär darauf getrimmt ist, uns Gefahren deutlicher zu signalisieren als das Schöne, heißt das nicht, wir hätten keine Wahl. Vielleicht erinnerst Du Dich an die 90 Sekunden Vorlauf (Beitrag "Zerbrechlichkeit als Kraftquelle"), in denen unser Gehirn uns sicherheitshalber einen Gefahrenbotenstoffcocktail zur Verfügung stellt? Sich mit diesen 90 Sekunden nicht zu identifizieren, bedeutet, die Welt zu beobachten, Dich selbst zu beobachten und zu entscheiden, was Du denken möchtest.
Ein bestechender Gedanke. Du könntest entscheiden, was Du denken möchtest, was immer auch gerade Deine Wirklichkeit gestalten mag. Klingt seltsam, illusorisch oder gar weltfremd? Ist es nicht. Es ist wissenschaftlich belegt. Denn egal, was passiert, Du entscheidest, wie Du es bewertest, und damit gestaltest Du Deinen Umgang mit Deiner Wirklichkeit. Du hast richtig gelesen – es ist Deine Wirklichkeit, nicht die der anderen. Deswegen ist es wichtig, was Du denkst und wie Du Ereignisse bewertest.
Ich beispielsweise möchte gerne denken, dass es möglich ist, etwas Neues zu erschaffen, selbst wenn andere Menschen das für unmöglich halten. Etwas, das schöner ist als unsere derzeitige, immer noch durch Pandemie, Katastrophen und Nachrichten geprägte Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit nenne ich die Nachrichtenwelt. Manchmal stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn ich von all dem nichts wüsste. Wenn ich irgendwo mein Leben gestaltete, abgeschnitten von der Nachrichtenwelt. Was mich dann wohl beschäftigen würde? Nun, das werde ich wohl nicht rausbekommen, weil ich in der Nachrichtenwelt lebe und meine Realität davon nicht unbeeinflusst bleiben kann. Und irgendeinem Einfluss bin ich ja schließlich immer ausgesetzt, das gehört zum Leben dazu.
Dieser Frage gehe ich nach, während mein Zug weiterrast. Gerade blendet mich die Sonne, dann folgt ein Tunnel, dann ist plötzlich alles grün und ich kann weit sehen. Jetzt möchte ich gerne denken, dass mir die Abwechslung gefällt. Obwohl ich einräumen muss, dass ich die Welt der Tunnel doch am wenigsten mag. Während ich den Gedanken beobachte, zieht die Welt an mir vorbei, und ich habe darauf keinen Einfluss. Zumindest, wenn ich im Zug sitze. Sollte ich aussteigen? Aber dann erreiche ich mein Ziel nicht. Blöde Situation. Ich könnte mein Ziel auch ändern. Das wiederum will ich nicht. Tatsächlich kann ich jetzt aber entscheiden, ob ich von der Abwechslung oder von den Tunneln genervt bin. Darauf habe ich Einfluss. Eine gewaltige Veränderung für die Art, wie ich das Leben erlebe.
Manche Menschen meinen, dass sich im Leben nichts ändern könne, jedenfalls nicht grundsätzlich. Jeder Versuch einer Veränderung scheitere unweigerlich am Faktor Mensch. Heißt das, ich muss davon ausgehen, dass prinzipiell alles immer gleich bleibt? Was für eine trostlose Aussicht. Eine Aussicht, für die leider viel spricht, wenn ich mir die Geschichte der Menschheit ansehe. Aber geht das auch anders? Ich denke, schon, und deswegen lade ich Dich ein, mit mir einen Ausflug zu den Werten der Vergangenheit zu machen.
Loyalität, Respekt, Ehre und Anstand. Werte der Vergangenheit, die leicht altmodisch anmuten und mich ungebrochen faszinieren. Haben sie noch Gültigkeit? Sicher. Nur das, was wir darunter verstehen, hat sich verändert. Ebenso die Kenntnis, wie wichtig diese Haltungen sind und zu welchen Konzepten sie gehören. Fast entsteht der Eindruck, wir könnten uns leisten, sie im modernen Leben zu vernachlässigen. Das Gegenteil ist der Fall. Mit den schnelllebigen Veränderungsprozessen bestimmter Werte und Meinungen im Rahmen sozialer Medien sind wir mehr denn je gefordert, eine eigene Ethik zu entwickeln. Wir brauchen Konzepte, die uns zur Orientierung dienen. Daher müssen wir unsere eigenen Werte mit zugehörigen Definitionen genau kennen und reflektieren. Mit solch haltbaren, stabilen Werten könnten wir zu anderen Verhaltensweisen kommen und vielleicht sogar Krieg verunmöglichen. Wir könnten uns als Menschen empfinden und einander zuwenden. Ja, wir könnten.
Alles Konjunktive, und jeder bietet Möglichkeiten. Geht es nicht darum, wenn wir Zukunft erschaffen? Dass wir Möglichkeiten eröffnen? Wenn jedoch Konzepte wie Macht und Besitz meine Begriffe von Loyalität, Respekt, Ehre und Anstand gestalten, entsteht etwas anderes – etwas, das sich vom Menschen abwendet. Durch diese Brille betrachtet, wurde die Geschichte der Menschheit offensichtlich maßgeblich durch solche Konzepte geprägt. Aus dem Konzept Macht entstand das unreflektierte Streben nach Besitz und Gier. So konnten sie zu Triebfedern werden, die verschiedene, überwiegend unangenehme Folgen hatten. Dazu gehören Krieg, Grausamkeit, Achtlosigkeit und Selbstbezogenheit. Andersherum haben sie auch Fortschritt, das produktive Streben nach mehr und das Gefühl von Sicherheit mitgebracht. Ich frage mich, welche Begriffe aus dieser Konstellation noch entstehen könnten? Jetzt möchte ich gerne denken, dass es spannend wäre, mit den alten Konzepten neue Werte zu verbinden.
Macht hätte dann mit Verantwortung zu tun und Fürsorglichkeit. Besitz wäre gut verteilt und jeder bekäme, was ihm zusteht. Statt des Konzepts von Krieg, um Macht zu erhalten, gehörten dazu Umsicht, Miteinander und Kommunikation. Merkst Du, wie der Begriff „Macht“ sich verändert? Wie er sich nicht mehr ausschließlich nach der negativen Seite der Macht anfühlt – dem Machtmissbrauch? Loyalität und Respekt wären dann auch Bestandteil von Macht und jeder hätte sie. Auf diese Weise gehörten sie dem Einzelnen und der Gruppe. Ehre und Anstand entwickelten sich aus dem organischen Miteinander der Gruppe.
Mit dem Stammesbegriff wird schnell die Vorstellung einer geringeren Möglichkeit zur Individualität verbunden. Mit diesem negativen Beigeschmack rechtfertigen wir unsere Selbstbezogenheit, wenden uns voneinander ab. In unserem Bestreben nach Individualisierung haben wir die natürliche Suche nach einer Gruppe nahezu verloren. Wäre es nicht interessant, Selbstbezogenheit durch Abgegrenztheit in Kombination mit Zugewandtheit zu ersetzen? Ein völlig anderes Ergebnis. Wir könnten also individuell und in einem Stamm sein. Kein Entweder-oder.
Merkst Du, was passiert? So könnten wir neue Türen öffnen. Bisher fehlen dafür Vorbilder. Könntest Du ein solches Vorbild sein? Könnten wir gemeinsam üben, selbst wenn wir weit voneinander entfernt leben? Weil wir es entscheiden und uns dazu verabreden? Vielleicht jetzt gerade?
Statt an derselben Wand entlangzulaufen und sie gelegentlich anders zu streichen, würden wir ein wirklich neues Konstrukt erschaffen. Entweder eine neue Wand oder ein Geländer vielleicht oder etwas ganz anderes. Statt aus unbewusster Gewohnheit in alte Verhaltensmuster zurückzufallen, würden wir uns von diesen trennen. Ich gestehe, dass mich diese Idee sehr beflügelt.
Impulse haben wir in der Krise wahrlich genug. Wenn Impulse zu Veränderung führen, dann stellt sich nur eine Frage: Welche Impulse führen in die richtige Richtung? Die Antwort auf diese Frage ist einfach, aber nicht trivial. Tatsächlich ist jeder Impuls geeignet, in die richtige Richtung zu führen. Vorausgesetzt, unsere innere Haltung ist auf gute Veränderung ausgerichtet. Diese wiederum ist davon abhängig, wie wir das Leben definieren. Geschieht das durch Selbstbezogenheit, ist das Ergebnis anders, als wenn ich mich auf die Gruppe ausrichte, zu der ich gehöre. Wie wäre es, wenn beides eine Rolle spielen dürfte? In meinem vorletzten Blog habe ich vom Nash-Gleichgewicht geschrieben. Danach würde jeder sein Handeln zum Vorteil aller Mitspieler ausrichten. Was fehlt uns, um uns in diese Richtung zu verändern? Teamgeist? Stammesbewusstsein? Vertrauen? Über den Stamm habe ich schon geschrieben (Artikel "Schöne neue Welt"). Also geht es dieses Mal um Vertrauen.
Vertrauen ist keine Selbstverständlichkeit mehr. Lass uns das anhand eines einfachen Beispiels durchspielen: Mein Zug wird ankommen. Kann ich darauf vertrauen? Ja. Denn die Schienen führen ihn zum Ziel und es ist sehr unwahrscheinlich, dass der Zug einfach seine Gleise verlässt. Muss ich davon ausgehen, dass es Schwierigkeiten geben könnte? Ja, natürlich. Jeder, der schon mal Zug gefahren ist, weiß, wie viele Hindernisse eine Reise mit sich bringen kann. Aber am Ende kommt man in der Regel an.
Schlagartig erinnere ich mich an meine Reisen durch Indien. Nach wenigen Wochen hatte ich den Zustand erreicht, dass ich vertrauensvoll in einen Zug oder Bus einstieg, weil ich wusste, dass ich ankommen würde. Irgendwo, vielleicht nicht genau an dem Ort, den ich geplant hatte, aber ich kam an. Diese Haltung entwickelte sich notgedrungen daraus, dass ich die Schrift nicht lesen konnte. Egal, wie oft ich fragte oder die Zeichen verglich, irgendwann musste ich einsteigen, und von dem Moment an ging die Fahrt los. Ich konnte nur darauf vertrauen, in der richtigen Richtung unterwegs zu sein. Keine Möglichkeit zur Kontrolle. Mein europäischer Hemmschuh, nämlich die Suche nach Sicherheit, wich dem Bewusstsein, dass man manchmal einfach einsteigen muss, um zu sehen, wohin die Reise führt.
Zugegeben, auf einen Alltag mit festen Arbeitszeiten ist dieses Beispiel nicht hundertprozentig übertragbar. Als Metapher für das Vertrauen ins Leben passt es jedoch sehr wohl. Wir müssen es wagen, einfach einzusteigen. In dem Bewusstsein, dass wir in jedem Fall landen werden. Und wir haben es in der Hand, wie wir unsere Reise in die Zukunft erleben. Voller Hindernisse oder voller Abenteuer? In jedem Fall im Vertrauen darauf, dass es eine Zukunft geben wird, und die liegt buchstäblich in unserer Hand. Immer!