Vielleicht kämpfst du mit deiner Identität? Möglicherweise experimentierst du gerne und willst dich selbst besser kennenlernen? All das tut Graziano auch. Er lässt sich herausfordern von seiner Freundin Pepa. Am besten liest du selbst.
Graziano stand vor dem Spiegel. Das rote Kleid schmiegte sich eng an seine schmalen Hüften. Langsam bewegte er sich hin und her. Mmmmhhhh… Ein Schnurren löste sich aus seiner Kehle. Das fühlte sich gut an. Dann machte er ein paar Schritte rückwärts, genoss das Rascheln des Kleides, fühlte die beengenden Korsettstangen. Irgendwie sexy. Ob Frauen sich immer so fühlten?
Rollentausch. Heute war Graziano mal ganz Frau. Ein Experiment. Seine Freundin hatte ihn herausgefordert.
„Ich wette, du würdest nicht als Frau durch die Straßen gehen.“
An seiner Ehre gepackt, hatte er sich aufgeplustert: „Was soll das denn sein? Etwa eine Unterstellung? Für was hältst du mich? Du kennst mich und weißt, wie offen ich bin.“ Sein zunächst spaßhafter Ton war von Satz zu Satz empörter geworden.
Pepa hatte ihn angestarrt, plötzlich verwirrt. Mit einem Schulterzucken hatte sie geantwortet: „Wen kennen wir schon wirklich? Und …“ Sie dehnte das U am Anfang, hob am Ende die Stimme und machte dann eine kleine, effektvolle Pause. „Wer nach allen Seiten hin offen ist, der kann nicht ganz dicht sein.“ Zufrieden mit ihrem Wortspiel hielt sie seinem Blick stand.
Da war sie wieder gewesen, diese leise Spannung zwischen ihnen. Keiner von ihnen wusste, warum sie da war, und noch nicht einmal, wann sie begonnen hatte. Ohne sich abzusprechen, hatten sie den Mantel des Schweigens über sie gebreitet und sie darunter versteckt. Diese Spannung war ein Abgrund, den sie einverständlich umgingen. Was hätte Reden auch nützen sollen, dort, wo es keine Worte mehr gab.
Graziano hatte sich einen Ruck gegeben. „Okay, dann ist es abgemacht. Ich mache es. Du suchst die Klamotten aus.“
„Das will ich sehen.“ Wie so oft vermochte ihr Lachen, die Spannung zwischen ihnen zu überbrücken.
Fasziniert betrachtete er nun sein Spiegelbild. „Was definiert mich als Mann?
Ist es nur die Kleidung? Kleider für Frauen und Hosen für Männer.“ Er stutzte: „Moment. Hosen für Frauen, Kleider für Frauen, Röcke für Frauen … das ist mir bisher nie aufgefallen. Frauen dürfen alles und ihr Geschlecht verschwimmt. Männer drücken sich anders aus.“
Dann dachte er weiter: „Bin ich mein Körper? Auf keinen Fall!“
Er kannte einige Menschen, die sich im falschen Körper gefangen fühlten und über eine Geschlechtsumwandlung nachdachten. Und er kannte auch solche, die es schon gemacht hatten.
Wie viel Mut gehörte wohl zu solch einem Schritt? Oder war es Verzweiflung? Der Mut der Verzweiflung?
Seine nackten Füße küssten den Boden, während er Schritt für Schritt in seinem Zimmer umherglitt. „Es fühlt sich an wie schweben. Jetzt noch die Schuhe.“ Mühsam zwängte er sich in die hochhackigen Pumps. „Ooops!“ Ein kleiner Aufschrei löste sich von seinen Lippen. „Mein Gott, wie wackelig.“ Dann nahm er sich zusammen, und nach wenigen Minuten gelang es ihm, elegant zu gehen.
Noch einmal kehrte er zu seinem Spiegelbild zurück. Die Verwandlung war bereits jetzt schon nahezu perfekt. Wie eine richtige Frau. Ein Korsett, Parfüm, Make-up – alles war für jeden verfügbar.
„Was ist das Wichtigste für eine Verwandlung?“ Er ließ die Frage unbeantwortet. Während er die langen Handschuhe seine Arme hinaufrollte, blieb sein Blick an seiner Brustbehaarung hängen. Herzform. Anziehend. Berührend. Liebevoll.
„Wer bin ich?“ Diese Frage stellte er sich oft. „Bin ich ein Mann oder ein Mensch oder ganz was anderes? Hetero, schwul, bi oder divers?“
Plötzlich spürte er sein Herz wild pochen, als hätte es ihm etwas zu sagen. Wenn er doch nur die Worte verstünde. Er atmete seufzend aus. Dann kehrte er zu sich selbst und seiner Verwandlung zurück. Es gab noch einiges zu tun.
Pepa hatte ihm Make-up zurechtgelegt. Langsam zog er seine Brauen nach, tuschte die Wimpern und bedeckte seinen Bart mit einer Maske. „Besser.“ Er nickte sich ermutigend zu.
Dann zog er los in die Stadt. Je länger er in seiner Verkleidung steckte, desto freier fühlte er sich und desto weiter war er von seinem gewohnten Ich entfernt. Dann kroch ein kleiner Gedanke in sein Bewusstsein. „Als Frau würdest du Grazia heißen.“ Verrückt. Es würde nur eine kleine Veränderung bedeuten. Energisch schüttelte er diesen Gedanken ab. Mit einem Schmunzeln fiel ihm ein, dass Pepa als Mann zu Joseph werden würde. Diese Veränderung wäre größer.
Sie hatten sich in der Stadt verabredet, am Brunnen. Er war fast da. Aus der Ferne sah er ihre Gestalt. Eine hinreißende Frau, und er spürte, dass es ihn nicht zu ihr zog – spürte, wie er gerne noch eine Weile eine andere geblieben wäre. „Das ist nicht fair“, dachte er, und dann:
„Wie es wohl wäre, wenn ich jeden Tag eine andere Rolle spielen, mich verwandeln würde? Dann könnte ich alles ausprobieren. Würde Pepa mitmachen oder würde sie mich verlassen?“ Bei diesem Gedanken stockte ihm selbst der Atem.
Inzwischen hatte sie ihn gesehen und blickte ihn mit ihren großen Augen an.
„Und, hat es Spaß gemacht?“
„Ja“, erwiderte er, und lautlos fügte er hinzu: „Zu sehr.“
Noch während sie voreinander standen, verwirrt über die neue Erfahrung, tat sich wieder der Abgrund zwischen ihnen auf. Doch dieses Mal fühlten sie, beide zugleich, etwas Ungewohntes:
Sie konnten ihn nicht mehr überbrücken. Eine Naturgewalt hatte sich auf den Weg gemacht, ihr ganzes Leben zu verkehren. Noch geschah alles in Zeitlupe, aber die Lawine rollte schon und würde weiter Fahrt aufnehmen.
Sie warf die Arme um ihn, und während er sie eng umschlungen hielt, flüsterte er ihr ins Ohr: „Ich möchte eine Frau sein.“
In einer Welt, in der alles möglich ist, kann es durchaus schwer sein herauszufinden, wer du bist und wie du sein willst. In der Auseinandersetzung mit der eigenen Identität ist das genauso herausfordernd wie im Finden deiner gesellschaftlichen Rolle.
Wir alle starten mit unserer Geburt, die uns prägt und mit einem Körper, durch den ein Geschlecht festgelegt ist. Dann wirken die Kultur, Gesellschaft, die Umwelt und die daraus resultierenden Gruppenzugehörigkeiten auf uns ein. Auch unsere Herkunft spielt für die Bewertung von Gleichheit und Identität eine immense Rolle, weil sie für unsere frühen Prägung maßgeblich ist. Aus all diesen Einflüssen entsteht nicht nur die unweigerliche Frage nach dem Sinn des Lebens, sie drängt sich geradezu auf. Daraus entstehen Prozesse, die bewusst oder unbewusst, von der Suche nach der eigenen Identität angetrieben sind. In der Psychologie gibt es dafür verschiedene Methoden. Doch manchmal geht es einfach nur um den eigenen, intimen Prozess, der durchlaufen werden will.
Einerseits sind wir alle Menschen, das macht uns gleich. Doch wir haben verschiedenen Geschlechter, verschiedene Biografien und verschiedenen Sehnsüchte. Wir bleiben Menschen und wir sind verschieden – so gesehen. Du merkst, es hat viel mit dem Sprachgebrauch zu tun, wenn wir uns definieren. Obwohl sich alles verändert, suchen die meisten Menschen nach Kontinuität. Auch das entspricht unserer natürlichen Ausstattung, die uns darauf ausrichtet, uns mit der Welt zu verbinden.
Diese Verbindung ist veränderlich und ändert sich in den verschiedenen Phasen deines Lebens, auch abhängig vom Alter. Die Sinnfrage und deine Identität sind untrennbar verbunden. Dazu lohnt es sich herauszufinden, wer und wie du wirklich bist. Das Thema Identitätsarbeit ist unerschöpflich und die geschlechtliche Identität macht nur einen Teil des Gesamtmotivs der Identitätsentwicklung aus. Insofern ist es eine große Spielwiese, auf der wir uns bewegen.
Sogar neurowissenschaftlich wird der Wert von Geschichten bestätigt. Weil sie nämlich unserem Gehirn ermöglichen, sich mit den eigenen Empfindungen zu verbinden und es nicht nur durch Denken zu einer Erkenntnis kommt. Anders formuliert: Der Mensch lernt aus Geschichten. Schon immer. Deswegen habe ich mich gegen ein reines Blogformat entschieden, denn ich bin davon überzeugt, gerade Geschichten tragen zum tiefen Verstehen der eigenen Identität bei.
Graziano weiß am Ende, wer er sein will. Doch was das bedeutet, ist ihm zu diesem Zeitpunkt sicher noch nicht klar. Jede Veränderung beginnt mit einer Erkenntnis, nämlich der, wie man sein will. Um diesem Teil der eigenen Identität nahezukommen, musst du dir selbst begegnen. Ein Wachstumsprozess, der von vielen Fragen begleitet wird. Fragen, die zunächst ohne Antwort sind. Denn die Antworten musst du selbst finden. Dafür biete ich dir verschiedene Möglichkeiten an. Und egal, für welche du dich entscheidest, eine Sache stimmt immer: Was immer du tust, tu es aus ganzem Herzen und mit dem Vertrauen, dass es nur eine Person gibt, die herausfinden kann, wer du wirklich bist – du selbst.
„Violetta und der Storch“. Die Geschichte einer Frau, die auf der Suche nach sich selbst und dem Sinn ihres Lebens ist. Auch diese Geschichte ist das Ergebnis eines kreativen Dialogs mit Ignasi.
Zusätzlich habe ich ein Workbook geschrieben, das dir mit Fragen deinen Weg zu dir erleichtert. Manchmal ist es gut, die Augen einer Kunstfigur zu nutzen, um sich selbst besser erkennen zu können. Das Buch heißt: Auf dem Weg zu dir mit Violetta. Eine Reise mit mehreren Etappen, die jeder Mensch mehrfach in seinem Leben durchläuft.
Alternativ kannst du dich mit dir und deiner Identitätsfindung in einem Workshop auseinandersetzen. Den findest du hier: Inneres Wachstum. Was immer du tust, tu es aus ganzem Herzen und mit dem Vertrauen, dass es nur eine Person gibt, die herausfinden kann, wer du wirklich bist – du selbst.
Die Geschichte von Graziano und Pepa stammt aus einem kreativen Dialog zwischen meinem Freund, dem Illustrator Ignasi Blanch Gisbert und mir. Arbeitstitel: Identitäten im 21. Jahrhundert. Da es so viele Möglichkeiten dazu gibt, haben wir uns auf den Prozess begeistert eingelassen. Üblicherweise arbeiten wir so, dass jeder von uns das tut, was ihm einfällt und daraus entsteht dann der Prozess, der in einer Geschichte mit Bild mündet. Rollentausch ist die erste, die wir Thema Identitätsentwicklung gemacht haben. In diesem Fall gab es zuerst das Bild. Andere Geschichten beginnen mit meinem Text und dann entsteht das Bild. Das Thema Identitätsarbeit ist unerschöpflich und die geschlechtliche Identität macht nur einen Teil des Gesamtmotivs der Identitätsentwicklung aus. Insofern ist es eine große Spielwiese, auf der wir uns bewegen. Sogar neurowissenschaftlich wird der Wert von Geschichten bestätigt. Weil sie nämlich unserem Gehirn ermöglichen, sich mit den eigenen Empfindungen zu verbinden und es nicht nur durch Denken zu einer Erkenntnis kommt. Anders formuliert: Der Mensch lernt aus Geschichten. Schon immer. Deswegen habe ich mich gegen ein reines Blogformat entschieden, denn ich bin davon überzeugt, gerade Geschichten tragen zum tiefen Verstehen der eigenen Identität bei.