Dieses Mal starten wir unseren kleinen Ausflug am Rand eines Wäldchens und gehen geschützt von Bäumen und Büschen durch die Natur. Meine ungelöste Frage von heute lautet: Können sich Menschen verändern? Das Erste, was mir dazu einfällt, ist: selbstverständlich. Diese einfache Antwort legt den Verdacht nahe, dass ich die falsche Frage stelle. Was also könnte die richtige Frage sein?
Was brauchen Menschen, um sich zu verändern? Die richtigen Impulse? In meinem letzten Blog habe ich darauf geantwortet, dass jeder Impuls richtig sein kann. Es liegt an unserer inneren Haltung dem Leben gegenüber, ob und wie wir uns verändern. Aber was brauchen wir noch? Meine Antwort: Wir müssen die Veränderung wollen. Denn Menschen verändern sich nur, weil sie es wollen und für sich selbst einen Vorteil erkennen. In Zeiten wie diesen ist die Frage naheliegend, ob es einen Vorteil gibt, den wir aus den Erfahrungen mit der Pandemie ziehen können.
Ich denke an meine tiefe Verbindung zu meiner Wahlmutter. Sie ist 80 Jahre alt und sitzt immer noch an der Kasse ihres Kinos. Wir kennen uns seit Jahrzehnten, und durch die Beschränkungen, denen sie beruflich ausgesetzt war, hatten wir mehr Zeit für uns. Alleine, weil die Kontaktbeschränkung das so wollte. Wir haben uns viel besser kennengelernt. Buchstäblich wissen wir umeinander. Wir haben diesen Unterschied bemerkt und genossen. Sobald ihre Arbeit wieder erlaubt war, mussten wir darum kämpfen, gemeinsame Zeit zu haben. Der Alltag diktiert und wir gehorchen. Oder nicht? Das werden wir herausfinden. Jedenfalls müssen wir etwas tun, um unsere Qualität zu pflegen. Ich kenne viele Menschen, die sich im Lockdown vermehrt auf sich und ihre Lieben konzentriert haben und denen das gefällt. Warum soll dann alles wieder wie vorher werden? Wie vor der Pandemie? Sollten wir nicht die Chance nutzen, uns neu zu organisieren?
Unser davor hatte viele Mängel. Mängel, die in den Jahren der Pandemie gnadenlos hochgepoppt sind. Nicht die Pandemie war die Ursache für wirtschaftliche Probleme, digitale Wüsten im Bildungs- und Gesundheitswesen, zerbrechende Beziehungen, Langeweile, Ängste, familiäre Gewalt oder Radikalismus. All das war schon vorher da. Nur zugedeckt – unter dem Mantel der Bequemlichkeit. Spürst Du, wie der Wind Dir direkt ins Gesicht bläst? Wir gehen gerade über ein freies Feld. Kein Schutz durch Bäume oder Büsche. Nur freies Land, wir beide und der Wind. Es ist kalt und wir gehen ein wenig schneller, damit wir warm werden. Es beginnt zu regnen. Geh zügig weiter, wir erreichen gleich den Waldrand. Nicht lockerlassen. Endlich bieten die Bäume den vertrauten Schutz. Wir stellen uns unter und warten, bis der Schauer vorbei ist. Erinnerst Du Dich? In meinem letzten Blog habe ich über Vertrauen geschrieben. Wie viel Vertrauen brauchen wir, um uns verändern zu wollen?
Wenn alles bleibt, wie es ist, fühlen sich die meisten Menschen wohl. Bis sie sich langweilen und dann in dieser Langeweile versinken. Unser Gehirn schaltet buchstäblich ab, wenn wir nicht üben, mit der Veränderlichkeit des Lebens umzugehen. Wir sind für Abwechslung gemacht. Jede unerwartete Veränderung ist geeignet, Stress auszulösen. Wieder einmal entscheidet unsere innere Haltung, wie wir die Wirklichkeit erleben und verarbeiten. Stress ist kein Monster – darüber habe ich ein Buch geschrieben. Aber Bequemlichkeit kann ein Monster werden. Obwohl ich beobachte, dass vielen Menschen der Spatz in der Hand lieber ist als die Taube auf dem Dach, erlebe ich in meiner Rolle als Therapeutin die vielen kleinen und großen, oft selbst erzeugten Katastrophen, durch die sich derlei Komfortzonen in Luft auflösen. Komfortzonen dieser Art entstehen häufig aus der Illusion heraus, alles kontrollieren zu können. Nun, Kontrolle im Leben ist wichtig – und gleichzeitig ist es wie mit dem Wetter: Das macht auch, was es will.
Sieh mal, der Regen hat aufgehört. Komm, lass uns weitergehen.
Also nochmal die Frage: Können Menschen sich verändern und wann tun sie es? Meine Antwort:
Ja, Menschen können sich verändern. Jederzeit.
Aber es ist auch die evolutionäre Konditionierung, die den Menschen Neuem gegenüber skeptisch sein lässt. Der Botenstoffcocktail, den unser Gehirn bei Gefahr bereithält, sichert einerseits das Überleben. Immerhin konnte Unbekanntes immer auch eine existenzielle Bedrohung darstellen. Andererseits kann er darüber hinaus notwendige Veränderungen verhindern, die nicht dem unmittelbaren Überleben dienen, wohl aber dem mittelbaren: dem in der Zukunft. Wir alle wissen, dass das Leben selbst veränderlich ist. Wäre es dann nicht einfacher, sich auf das Prinzip der Veränderung zu verlassen?
Vertrauen in das Prinzip der verlässlichen Veränderung hat mir in meinem Leben oft geholfen. Es hält mich in Bewegung, und das tut mir und meinem Geist gut. Eigentlich wäre es dann wirklich viel vernünftiger, sich auf dieses Prinzip einzulassen, statt am Alten festzuhalten, oder?
Über die neue Vernunft habe ich in meinem vorletzten Beitrag geschrieben. Den Gedanken möchte ich erweitern, nämlich um das Motiv des guten Grundes. Denn: Wann immer es um Veränderung geht, müssen wir uns absichtlich über unsere Bedenken hinwegsetzen. Diese Absicht entwickelt man in der Regel nicht ohne Grund. Und welchen Grund braucht der Mensch für Veränderung? Vermutlich einen guten.
Ganz sicher ändern wir uns nicht für andere und schon gar nicht für Begriffe, die nicht unmittelbar spürbar oder erfahrbar sind. Umwelt, Klima, Ressourcen – jeder Appell an die Vernunft greift nicht genug, um die eigene Komfortzone zu verlassen. Entweder ist es zu teuer oder es wird in Frage gestellt, ob es wirklich funktioniert. Geht es also wirklich um Machbarkeit? Bevor wir diese anerkennen, sollen und können ja die anderen etwas tun! Eine interessante Ausrede, die vom guten Grund ablenkt. Denn auch ich bin eine andere für jemand anderen und umgekehrt. Wir sind folglich alle immer beides, wir selbst und andere. Ich bin immer ich und die Gruppe. Das würde genauso für Dich gelten.
Wenn wir beide uns jetzt darauf einigten, dass es immer um ein höheres und ein persönliches Ziel geht, dann müssten wir also eigentlich nur unsere Absicht klären, und schon könnte es machbar sein, machbar werden, hätten wir den guten Grund, den wir für Veränderung brauchen. Und wir bräuchten keinen Plan, der alles im Voraus festlegt. Wir würden beobachten, justieren, korrigieren und immer einer Absicht folgen. Im Moment folgen wir beide meiner Absicht, eine bessere Zukunft zu erschaffen, die nicht zwingend alte Muster mitnehmen muss. Eine Zukunft, die besser sein kann, als wir sie uns jetzt vorzustellen vermögen. Was denkst Du über diese Idee? Wie würdest Du Deinen Beitrag zu dieser Absicht formulieren?
Oh, hier kommen wir nicht weiter auf unserem Weg. Der Matsch ist selbst für unsere Gummistiefel zu tief. Sollen wir einen Umweg machen oder wollen wir hindurchwaten? Das wäre immerhin der direkte Weg. Und es passt zu unserem Thema. Wenn ich also erst einmal erkannt habe, dass es einen guten Grund gibt, dem ich mich nicht entziehen kann, dann muss ich mich absichtlich über meine eigenen Vorbehalte und Botenstoffcocktails hinwegsetzen. Dabei geht es tatsächlich nicht um die Machbarkeit selbst, sondern um einen guten (Beweg-)Grund, der individuell als Treiber für mein Verhalten wirkt. Auf diese Weise erzeuge ich Machbarkeit. Nur so kann ich eine Veränderung erschaffen und den Weg dorthin über alle Hindernisse hinweg durchhalten.
Und schon mündet unser Spaziergang in eine neue Frage: Welcher Absicht willst Du folgen und was brauchst Du dafür? Welcher ist Dein guter Grund?
Ich werde dieser Frage für mich unter der Dusche nachgehen und dann einen heißen Tee trinken, denn nach diesem Spaziergang bin ich komplett durchgeweicht. Und was tust Du?