Die Macht der zwei Gramm
Wir leben in einer schwierigen Zeit. Nur zwei Gramm Viren bringen den Planeten zum Erliegen – weltweit. Ohne Ausnahme. Ein kleines „Nicht-Lebewesen“ stellt unser Leben auf den Kopf. Das ist bizarr, denn Viren brauchen uns, um überhaupt leben zu können. Mir geht durch den Kopf, wie sehr wir alle aufeinander angewiesen sind, sogar auf Viren. Denn evolutionär betrachtet, sind sie die Treiber für Weiterentwicklung – für Evolution an sich. Trotzdem erzeugen sie in uns einen Ausnahmezustand, der vor allem durch Widersprüche gestaltet wird.
Eine ganze Welt lebt auf Abstand. Am Anfang stand die Zeit still und der Planet atmete auf. Inzwischen wollen die einen, dass alles möglichst schnell wieder wie vorher wird, und die anderen wollen eine anhaltende Veränderung.
Die Welt auf Abstand
Welt auf Abstand ist ein Film, der diese besondere Zeit einfängt. Er steht nur noch bis Ende April zur Verfügung.
Mich beeindrucken die verschiedenen Erlebniswelten, die alle nebeneinander Platz haben. Jede ist für sich genommen richtig. Jede ist ein eigenes, reales Erleben.
Die Pandemie zwingt uns, unsere Kontakte zu reduzieren. Allerdings ist es genau die Regulation durch Berührung, die unser Immunsystem und unser Gemüt so dringend brauchen. Wir sind zur Reflexion verdonnert, und alles, was vorher nicht ganz in Ordnung war, bricht auf. Ob in der Beziehung, in der Arbeit, in der Umwelt, in der Gesellschaft – immer bleiben wir am Ende allein zurück mit einer Empfindung, die so dringend geteilt werden will.
Jeder wird auf sich selbst zurückgeworfen. Vielleicht ein überfälliger Prozess? Allein sein muss man können und üben. Viele können es nicht, oder nicht gut. Zu viele Ablenkungen am Wegesrand haben uns in den letzten Jahrzehnten erlaubt, den Kontakt zu uns zu verlieren. Da, wo es bisher um Äußeres ging, geht es nun um Inneres. Im Lockdown müssen wir einen eigenen Rhythmus finden, eine Routine. Und dann ist sie immer noch da, die Sehnsucht nach Kontakt zu den anderen.
Beziehung statt Kontakt
Kontakt, das ist per Definition eine durch Gespräche oder Treffen aufrechterhaltene Verbindung zu Freunden oder Bekannten. Die Forschung zeigt, dass ein Telefongespräch mehr Kontaktgefühl erzeugt als eine Nachricht. Wir haben Zoom, Teams, Videocalls, aber wir nutzen sie nicht, um unsere Beziehungen zu pflegen, sondern vor allem zum Arbeiten. Das lässt sich leicht ändern, denn die Intensität solcher digitalen Elemente erlaubt eine Beziehung, die deutlich spürbar und verlässlich ist. Wir müssen uns nur daran gewöhnen, so sichtbar zu sein, so mittelbar, nur mit Worten und Blicken, ohne Korrektur durch eine Berührung. Eine mutige Form der Beziehung, die Vertrauen erfordert – in sich selbst, in den anderen und in die Kraft dieser Beziehung.
Wenn wir uns so aufeinander beziehen, dann öffnen wir uns füreinander und verbinden uns miteinander. Auch, wenn wir uns nicht direkt berühren, kann unser Gehirn anhand der Erinnerung die erforderliche innerkörperliche Antwort herstellen. So sind wir unberührt berührt. Eine seltsame Konstellation im geschriebenen Wort, und doch gestaltet sie Beziehung, indem wir andere Kanäle benutzen, die uns zur Verfügung stehen. Wie unser Herz, unsere Augen oder unsere Fantasie – bisher waren sie eher eine Domäne romantischer Liebesgeschichten. Dort wird mit den Augen gestreichelt, mit dem Herz das Herz berührt oder die Erinnerung an den geliebten Menschen lässt den Protagonisten erbeben. Anfassen oder umarmen sind Gesten, die wir selbstverständlich ausführen und die unser Gehirn in Botenstoffe umsetzt. Nun müssen wir den Spieß umdrehen und darauf vertrauen, dass unser Gehirn für uns arbeitet.
Die Macht der Möglichkeiten
Wir haben die in uns angelegten Möglichkeiten, um uns anpassen zu können. Unser Gehirn ist genau darauf eingerichtet. Genauso wie unser autonomes Nervensystem, das auf Kommunikation und Beziehung ausgerichtet ist.
Das Privileg der Pandemie ist, nicht so durch den Alltag jagen zu müssen. Anzuhalten könnte uns helfen, zu reflektieren. Immer, wenn sich eine Tür schließt, gehen andere auf. Mir ist bewusst, dass Menschen auf der Intensivstation um ihr Leben kämpfen. Aber sie sind eben nicht die einzigen. Auch die anderen kämpfen, jedenfalls zum größten Teil. Sie kämpfen mit verschiedenen Ungeheuern, aber sie alle kämpfen.
Wie viel besser wäre es, das anzunehmen, was da ist? In Beziehung mit der Ungeheuerlichkeit einer nicht enden wollenden Krise zu treten, mit uns selbst und dann mit den anderen – auf den Wegen, die uns möglich sind. Kontakt nein, Beziehung ja! Je mehr wir betonen, was wir nicht haben und unbedingt brauchen, desto mehr verlieren wir das, was da ist oder da sein könnte.
Veränderung im Angesicht gemischter Gefühle
Beziehung braucht Pflege, Aufmerksamkeit und die Geduld unzähliger, kleiner Schritte. Wir alle leben mit gemischten Gefühlen. Wie großartig wäre es, wenn wir uns mit diesen in ihrer einfachsten Form identifizierten und erst dann in die Tiefe gingen? Dort könnten sich Vertrautes und Unvertrautes gegenüberstehen und einen gemeinsamen Punkt bilden, einen, auf den jeder für sich zugeht, aber auf den alle gemeinsam zustreben.
Es ist in Ordnung, nicht immer in Ordnung zu sein. Aus all diesen Erfahrungen und Gefühlen werden Möglichkeiten entstehen, zu denen wir noch keine Beziehung haben. Beziehung aber erschafft Gemeinschaft. Nur mit ihr können wir diese Zeit überstehen.