Von der Ohnmacht zur Machtlosigkeit ist der Weg nicht weit. Während ich beobachte, wie sich Fachleute, Medien und Schlagzeilen darin befleißigen, Ohnmacht in mir zu erzeugen, regt sich in mir vor allem eine Kraft: die des Widerstands. „Wie können Sie immer noch positiv denken, wenn die Zukunftsaussichten so schlecht sind?“, fragte mich eine Patientin. Mich freut, dass sie nicht gesagt hat, wie ich die Zukunft schönreden könne, wenn sie so negativ erscheint. Ja, es stimmt, ich bemühe mich um eine konstruktive Haltung, weil ich weiß, dass wir ohne sie keine Lösungen finden werden.
Panik und Angst verstellen den Blick, machen uns ohnmächtig, bis wir buchstäblich bewusstlos sind. Aber ohne Bewusstsein geht es nicht. Wenn ich eines bei meiner Suche nach einem neuen Zukunftsnarrativ verstanden habe, dann diese Tatsache: dass Bewusstsein die einzige Lösung für Veränderung ist. Ich lasse mir meine Worte durch den Kopf gehen. Wo Bewusstsein ist, endet die Ohnmacht. Während ich den Satz leise ausspreche, frage ich mich, ob diese Aussage tragfähig ist. Denn das würde auch bedeuten: Keine Macht ohne Bewusstsein. Kann das so stimmen? Komm, wir schauen uns die Macht einmal genauer an.
Naturgemäß ist Macht mit dem Begriff der Kontrolle verbunden. Politische, wirtschaftliche oder soziale Kontrolle und, nicht zu vergessen, die Kontrolle über andere Menschen. Auch hier ist Bewusstsein entscheidend darüber, wie ich diese Macht einsetze. Für andere Menschen oder gegen sie, zur Förderung des Allgemeinwohls oder zu meinem eigenen. Gesetze zur Nachhaltigkeit, wirtschaftliche Förderung neuer Technologien und selbst Trends in Mode oder Lifestyle sind das Ergebnis von Macht, die Einzelne oder mehrere ausüben. So gesehen klingt das Wort Macht fast verführerisch. Es klingt gut, wenn angesichts der Situation unserer Welt die Ressourcen kontrolliert werden können. Bisher geht es dabei offiziell um das Wohl der Menschen oder um wirtschaftliches Wachstum. Doch ich bezweifle, dass diese Parameter genügen, denn ihnen fehlt der Aspekt der Zukunft. Jener Gesichtspunkt, der die betrifft, die nach uns auf dieser Welt leben werden.
Wer die Macht, die Kontrolle hat, muss in jedem Fall weit denken und weiterdenken.
Um daran wiederum Gefallen zu finden, müssen wir früh lernen, was Macht ist und was sie für den Menschen bedeutet, der sie ausübt.
Schon von klein auf geht es darum, wer die Macht hat, also darum, wer das Sagen hat. Mit meinen kleinen Patient*innen diskutiere ich oft darüber, wer bestimmen darf. Stellvertretend für ähnliche Gespräche erzähle ich die Situation mit dem 9-jährigen T., der sehr pfiffig ist und seine Mutter an ihre Grenzen bringt. „Man, ich will auch mal sagen, was gemacht wird, nicht nur Mama oder Papa oder meine Geschwister.“ T. klingt genervt, fordernd und zeigt, wie sehr es ihn stört, der Jüngste zu sein. „Heißt das, du möchtest Bestimmer sein?“ Meine Nachfrage ist zugewandt, sachlich. „Ja!“ Diese Antwort begleitet er mit einem energischen Kopfnicken. „Das kann ich verstehen“, entgegne ich. Meine Zugewandtheit erzeugt bei seiner Mutter ein scharfes Einatmen, und bevor sie in das Gespräch eingreifen kann, stoppe ich sie mit einer deutlichen Handbewegung. Hier übe ich Macht aus, weil ich dem Kind vor mir einen eigenen Erkenntnisgewinn ermöglichen will. Einen, der in Bewusstsein mündet. Ich frage also ruhig: „Was glaubst du denn, was ein Bestimmer macht?“ – „Na, das ist doch klar. Der sagt, was gemacht wird, wann ich ins Bett muss, welchen Film ich sehen darf, ob ich Hausaufgaben machen muss, mit wem ich spielen darf und wann ich aufräumen muss.“ – „Hm, und du denkst, das ist alles?“
„Ja. Als Bestimmer hat man es gut, weil einem niemand sagt, was man machen soll.“ Ich unterdrücke mein Schmunzeln und bestätige: „Das kann man zumindest denken.“– „Denkst du, es ist nicht so?“, fragt T. verunsichert. Mit einem Schulterzucken spreche ich weiter. „Ich denke, es ist nur ein Teil der Geschichte. Wollen wir mal durchspielen, was ein Bestimmer noch so machen muss?“ Sein gedehntes „Na gut“ zeigt seine Neugier, gepaart mit einem vorsichtig hindurchschimmernden Widerstand. Ohne Frage ahnt er, dass ich sein Gedankenkonstrukt torpedieren werde. „Ein Bestimmer steht als Erster auf, macht Frühstück für alle, sorgt dafür, dass jeder hat, was er braucht, geht jeden Tag los, um Geld zu verdienen, putzt die Wohnung, macht den Garten, geht einkaufen, kocht, kontrolliert die Hausaufgaben und geht als Letzter ins Bett, wenn alle anderen schon schlafen, um alles zu tun, was noch zu tun ist.“ T. schaut mich prüfend an: „Aber er kann auch über alles bestimmen.“ – „Ja, aber nur, wenn er die anderen Aufgaben auch erfüllt.“ T. schaut auf den Boden. Dann kommt ein leises „Na gut, dann warte ich noch ein bisschen.“ – „Weil?“, frage ich. „Das mit dem Bestimmen kriege ich hin, aber das andere noch nicht.“ Klarer kann man es nicht formulieren:
Macht hat nicht nur mit Bestimmen zu tun, sondern auch mit Verantwortung.
Am Beispiel dieses Gesprächs mit einem 9-Jährigen wird das Dilemma der Macht deutlich. Viele wollen sie haben, aber nur wenige mit allen Konsequenzen. Die Frage ist also: Wenn ich die Macht habe, vermag ich dann zugleich auch die Verantwortung für meine Entscheidungen zu übernehmen, wenn sie weitreichende Auswirkungen haben? Übernehme ich die Verantwortung für meine Handlungen? Zu Ende gedacht: Handle ich immer in dem Bewusstsein, dass jede meiner Handlungen unter Umständen weitreichende Konsequenzen hat? Macht über sich selbst und seine Handlungen – wäre das nicht Macht pur? Mir erscheint das sehr verführerisch und vor allem erstrebenswert. Umgekehrt mag es illusorisch wirken. Schließlich haben viele Menschen eher das Gefühl von Ohnmacht, weil „die von oben“ über sie bestimmen. Nun, ich denke, jeder Mensch kann bestimmen, wenn auch nur in seinem kleinen Bereich. Und wenn jeder Mensch diesen kleinen Bereich gut gestalten würde, entstünde daraus eine gewaltige Macht. Eine, die aus dem Kleinen ins Große hineinwirkt, keine, die von oben aufgezwungen wird. Eine echte Revolution des Volkes, entstanden aus der Macht der Einzelnen.
Einflussnahme ist wichtig und vielfältiger in ihren Möglichkeiten, als die meisten Menschen glauben wollen. Die Resignation angesichts einer Übermacht von Einflüssen, denen man ohnmächtig gegenübersteht, ist verständlich und wohl jedem Menschen vertraut. Und wieder regt sich mein Widerstand. Der Einfluss jener, die wir Influencer nennen, ist erstaunlich groß.
Wie wäre es, wenn wir alle Influencer wären?
Dazu bräuchte es neben einem geschulten Bewusstsein auch Mut und Zivilcourage. Beide Qualitäten wollen geübt werden, um sie effektiv nutzen und einsetzen zu können. Hier kann man sich gut an der Influencer-Szene orientieren: Sie funktioniert durch eine Entscheidung, ein Ziel zu erreichen, und Konsequenz auf dem Weg zu diesem Ziel. Also stelle ich dir jetzt die Frage: Was möchtest du beeinflussen und was müsstest oder könntest du dafür tun? Bevor ich dich mit dieser Frage zurücklasse, möchte ich noch etwas aus meinem Leben mit dir teilen, weil ich hoffe, es hilft dir, dich meiner Frage zu stellen.