Der kleine Mensch steht bei seinem sehr großen, schlaksigen Vater. Dessen Knie haben für das Kind genau die richtige Höhe, um den Kopf dazwischen abzulegen und sich in Sicherheit zu bringen. Das kleine Wesen beobachtet, wie mein Begleiter und ich auf es zukommen. Sein Kopf taucht immer wieder kurz zwischen den Knien ab, um dann strahlend wieder aufzutauchen. Gleichzeitig stabil zu stehen, zu winken und sich seiner Umgebung zu versichern, ist eine koordinative Herausforderung. Helles Lachen. Dann Stille. Je näher wir kommen, desto regloser wird das Kind. Intensiver Blickkontakt. Dann ein Winken. Ich winke zurück. Beim dritten Winken stehen wir mit etwas Abstand voreinander. Aus irgendeinem Grund hält das Kind den Kontakt ausschließlich zu mir. Intensive Kommunikation. Nonverbal.
Das Kind zeigt auf seinen Vater und winkt mir erneut zu. „Papa?“, frage ich. Ein strahlendes Nicken ist die Antwort. Dann zeigt es energisch auf zwei Mädchen, die auf dem Sandstrand stehen und interessiert zu uns schauen. „Deine Schwestern?“ Wieder ein Nicken, dann den Kopf zwischen die Knie und alles nochmal von vorne. „Zeigst du mir deinen Stamm?“ Das Kind hält inne, wird auffallend still. Als würden wir eine Grundwahrheit berühren. Ein heiliger Moment. Dann breitet sich ein Strahlen auf dem kleinen Gesicht aus. Wir haben uns offensichtlich auf diese Wirklichkeit geeinigt. Damit ist die Welt sicher – für beide. Basisverständigung über eine intrinsisch wirksame Erinnerung. Ich sage: „Das Wesentliche zuerst.“ Ein intensiver Blick, gefolgt von Verlegenheit und Verstecken zwischen den väterlichen Knien. Dann wendet sich das Kind meinem Begleiter zu. Blick. Winken. Zurückwinken. Mich beeindruckt die kindliche Intensität. Mein Begleiter reagiert anders als ich. Er sagt: „Hallo Welt.“ Das Kind schaut interessiert und weiß nicht, wie es reagieren soll. Dann versteckt es sich zwischen den Knien und taucht schnell wieder auf, um zu winken. Wir winken zurück, gehen weiter, und im Gehen erklärt mein Begleiter mir: „Hallo Welt – das sind die ersten Worte eines Programmierers, wenn er eine neue Umgebung erschafft.“
Mich erinnern diese Worte an ein Buch, „Dear world, How are you?“ von Toby Little. Auf Deutsch heißt es: Liebe Welt – wie geht es dir? In ihm fragt ein Fünfjähriger seine Mutter, ob er Briefe an die Welt schicken kann. Das Zauberhafte an diesem Buch ist, dass Toby seiner Mutter die Briefe diktiert und sie diese tatsächlich verschickt. Die sozialen Medien machen es möglich. Toby will die Welt kennenlernen und herausfinden, wie sich Menschen besser verstehen können. Und er bekommt Antworten auf seine Fragen. Ein anderer Zauber, mit derselben Wurzel: Ich bin Teil dieser Welt und möchte sie verstehen. Besser kann der große Stamm der Menschheit nicht wahrgenommen werden. Ich bin überzeugt, dass diese Qualität in uns angelegt ist und wir sie im Laufe des Erwachsenwerdens schlicht vergessen.
Auf dem Rückweg treffen mein Begleiter und ich wieder auf den kleinen Stamm des kleinen Wesens. Dieses Mal sprechen wir mit dem Vater und ich teile meine Erinnerung an Toby Little mit ihm, während sich das Ritual des Winkens und Zeigens von vorhin mit dem Kind wiederholt. Wir kennen uns nicht, aber wir sind im Kontakt – unverfälscht, und wir inspirieren uns. Ganz einfach, weil wir da sind. Das entspricht unserer natürlichen Ausstattung, und das ist sogar wissenschaftlich bewiesen.
Tatsächlich sind Körper und Gehirn für Empathie, Kooperation, Großzügigkeit und Verbindung gemacht. Als soziale Wesen haben wir die Neigung, uns mit anderen zu verbinden und Beziehungen einzugehen. Toby und das Kind vom See bestätigen das auf ganz unterschiedliche Weise. Unsere Beziehungen können Quellen der Freude, der Dankbarkeit, des Friedens, des Wohlbefindens, der Besessenheit, der Liebe, des Schmerzes oder der Trauer sein. Sie sorgen für den Rhythmus unserer Tage, unserer Arbeit, wie wir über uns selbst denken, und sie geben unserem Leben Sinn.
Unsere soziale Natur ist nicht einfach ein Produkt unserer Erziehung oder unserer Kultur. Sie wird in Design und Funktion unseres Gehirns und unseres innerkörperlichen Lebens sichtbar. Diese haben sich evolutionär entwickelt, um unser komplexes soziales Leben zu unterstützen. Unsere modernen Gehirne sind so verschaltet, dass wir uns auf Andere zubewegen und uns mit ihnen verbinden wollen. Der Neurowissenschaftler Matthew Lieberman hat darüber sogar ein Buch geschrieben: Social: Why Our Brains Are Wired to Connect.
Unser Equipment, bestehend aus neuronalen Schaltkreisen, untermauert all unsere Beziehungen, beginnend mit unserer Geburt oder sogar schon davor. Eine Studie des Neurowissenschaftlers Tor Wager entdeckte, dass es für Empathie (care) tatsächlich eigene Kreisläufe gibt. Dieselbe Hirnregion ist auch an den Schaltkreisen für Essen und Sex beteiligt. Tatsächlich sind unsere Gehirne für Großzügigkeit und Kooperation verschaltet. Was läge also näher, als sich entsprechend unserer Ausstattung zu verhalten?
Um uns daran zu erinnern, wie wir gemacht sind, müssen wir üben. Eigentlich suchen wir Berührung und haben dafür extra Empfänger, deren Informationen direkt zur Inselrinde gehen, selbst wenn wir freundliche Berührungen nur sehen. Dieser Hirnbereich reagiert auf Emotion und Zwischenmenschlichkeit. Wenn wir diese Elemente nicht pflegen oder gar keinen Zugang zu ihnen haben, verschieben wir unsere kognitiven und biologischen Ressourcen und fokussieren uns auf uns selbst. Wir isolieren uns. Das Leben wird schwerer. Damit werden die Berge, die wir metaphorisch ersteigen müssen, höher. Umgekehrt führt die Verbindung zu unserer biologischen Ausstattung zu einer besseren bioenergetischen Versorgung, die wir genauso brauchen wie Sauerstoff oder Glukose. Und dann können wir buchstäblich Berge versetzen. Wir werden glücklicher, gesünder und erfolgreicher.
Einer sprachgeschichtlichen Herleitung des Wortes nach kommt Hallo aus dem Althochdeutschen und bedeutete damals etwa Hol mich. Wenn ich also Hallo Welt sage, dann sage ich eigentlich Hol mich, Welt. Was für eine Aufforderung. Eine, die mir gut gefällt und der ich gerne folge. Und du?