Mein Tag beginnt mit einer traurigen Nachricht, dem Tod der Schwiegermutter meines Freundes. Noch bevor ich realisiere, was er gerade mit mir teilt, lese ich seine nächsten Worte: „Zum Glück haben wir sie genug geliebt.“ Sein Satz klingt in mir nach. „Genug geliebt macht Abschied leichter“, raunt eine leise Stimme in mir. Dann fragt eine lautere innere Stimme: „Ob das wirklich so ist? Wenn wir sie genug geliebt haben, können wir Menschen dann besser gehen lassen? Und wenn es so wäre, würde das dann auch für Dinge gelten oder gar für die Vergangenheit?“ Spontan beschließe ich, so zu tun, als wäre es so.
Mir ist bewusst, wie viele Annahmen falsch sind, obwohl wir sie ganz selbstverständlich machen. Doch selbst wenn der oben beschriebene Gedanke falsch wäre, kann ich ihm nicht widerstehen. Dafür ist er einfach zu verführerisch. Also spiele ich ihn durch und beobachte, was sich mir präsentiert.
Ich möchte gerne denken, genug zu lieben, würde helfen. Als Nächstes nehme ich an, die Vergangenheit loszulassen würde dann gelingen, wenn wir sie genug geliebt hätten, als sie noch Gegenwart war. Angesichts der Tatsache, wie oft die Vergangenheit zitiert wird, scheint der Umkehrschluss naheliegend, wie wenig viele Menschen lieben, was sie gerade tun oder erleben. Und in der Tat ist dieser Teil der Erkenntnis mit Sicherheit richtig. Doch sogleich habe ich die nächste Frage.
Seltsame Frage. Wann ist etwas genug geliebt worden, und wer bestimmt das? Mit Sicherheit ist dieses GENUG sehr individuell festzulegen. Doch kann man Liebe messen? Für mich ist Liebe primär kein Gefühl, sondern vielmehr eine Haltung dem Leben oder einem Menschen gegenüber. Sie resultiert aus einer Entscheidung, nämlich der, dieser Haltung treu zu bleiben. Nun weiß ich immer noch nicht, wann es genug Liebe ist, um etwas gehen zu lassen. Ein solches Maß festzulegen, will mir nicht gelingen. Immer wieder komme ich zurück zu der Erkenntnis, wie sehr der Mensch dazu neigt, stets mehr von dem zu wollen, was schon da ist, und auch deshalb am Alten festzuhalten.
Welcher Spur folge ich nun? Der von genug geliebt oder der von immer mehr wollen? Zumindest hier ist die Entscheidung eindeutig: Ich verfolge beide Gedanken und verbinde sie mit einer anderen Frage, die hier vielleicht weiterhelfen kann: der Frage nach den Bedingungen von Evolution. Zuletzt hatte ich die Ehre, als Gast im Evolution Podcast geladen zu sein. Drei intensive Stunden Austausch über den Menschen und seine Natur, auf Englisch. Sehr inspirierend. Dort machte ich nicht zum ersten Mal die Erfahrung, dass mir das Verstehen von Evolution erlaubt, die Natur des Menschen selbst besser zu verstehen. Und das führt mich unmittelbar zu Charles Darwin.
Der Engländer mit der großen Begabung, die Natur zu beobachten, lebte sein Leben über acht Jahrzehnte lang im 19. Jahrhundert. Ihm verdanken wir die Evolutionstheorie des Überlebens des Stärksten (Survival of the Strongest). Eine Theorie mit weitreichenden Folgen, denn sie wurde schnell auch auf die Gesellschaft übertragen und vereinnahmt. Wettkampf, Egoismus, das Streben nach mehr, Konkurrenz – allesamt menschliche Eigenschaften, die sich augenscheinlich auch im Tierreich spiegeln. Doch was, wenn es anders wäre? Wenn es um Liebe ginge, um Vernunft und Gerechtigkeit? Du merkst, ich gehe immer noch meiner Anfangsfrage nach. Was, wenn all die vertrauten Ideen vom Überleben des Stärkeren nur Teile des gesamten Bildes wären? Denn wer ist der Stärkste? Der mit der größten Kraft, dem meisten Geld oder der größten Zielstrebigkeit? Diese Liste könnte ich fortsetzen, aber du ahnst sicher schon, worauf ich hinauswill.
Ein durch diese Qualitäten maßgeblich gestaltetes Leben erzeugt das, was wir heute erleben: einen ausgebeuteten Planeten, Gewinnstreben, Egoismus, Gier, Achtlosigkeit. Tatsächlich aber ignorieren wir dabei hartnäckig, was die Wissenschaft aus Biologie und Genetik längst beweist: Der Stärkste ist auf Dauer nicht der mit dem härtesten Ellenbogen, sondern der mit der besten Fähigkeit zur Verbindung, zur Kooperation. Hinzu kommt: Kein Tier tötet, weil es ihm Spaß macht oder weil es seine Stärke zeigen will. Es tötet und kämpft, weil es einen triftigen Grund dafür gibt, weil es Hunger hat, weil es dem Überleben dient. In der Natur kann man also beide Qualitäten finden, die der Kooperation und die des Kampfes.
Beides zu können, entspricht der Ausstattung unseres Nervensystems viel mehr als der reine Wettbewerbsgedanke. Davon ausgehend, dass Natur ökonomisch und immer zielgerichtet ist, wäre folgende Erkenntnis zwingend: Da das Nervensystem auf Kontakt und Miteinander ausgerichtet ist, müssen wir uns entsprechend verhalten. Nun kannst du einwenden, Wettbewerbe habe es schon immer gegeben. Das stimmt, zumindest in den letzten 5.000 Jahren Zivilisation – also seit den Sumerern. Und was war davor? Wie waren die Menschen da? Nun, das wissen wir nicht, aber es gibt über das Davor inzwischen viele archäologische Erkenntnisse.
Die Funde der ersten jungsteinzeitlichen Großsiedlung von Çatalhöyük in der Türkei belegen nicht nur die Existenz von hoch entwickelten Zivilisationen vor etwa 7.500 Jahren, sondern sie geben auch Hinweise auf ihre gesellschaftlichen Regeln. Spannenderweise zeugen diese nach ersten Erkenntnissen von viel mehr friedlichem Miteinander und Gleichberechtigung, als die Geschichte der Zivilisation es je vermuten ließ. Genauso der zu den ältesten Bauwerken der Welt gehörende Göbekli Tepe, älter als 11.000 Jahre, der Einblick in Baukunst, Handwerkskunst und Vorstellungskraft der Menschen aus dieser Zeit gibt. Stell dir vor, seine Reliefs zeigen keine Kriege, keine Waffen, und auch Massengräber wurden nicht gefunden. Zwar gibt es die Möglichkeit, dass entsprechende Beweise verschwunden sind, da diese Stätten vom ansteigenden Wasserspiegel überschwemmt wurden. Aber was, wenn nicht? Wenn das Prinzip des Kampfes nur in die Zeit der letzten 5.000 Jahre gehören würde?
Ausgehend von diesen Annahmen erliegen wir einem Irrtum, wenn wir Darwins Ideen uneingeschränkt weiter folgen; wenn wir das Leben nur durch diese Linse betrachten und entsprechend interpretieren. Mir drängt sich der Gedanke auf, Wettbewerb sei ein spielerischer Teil des Lebens, der in Kooperationen vorkommt. Kampf gäbe es nur im Extremfall als Antwort auf spezielle Bedingungen. Der Normalfall wäre ein Leben ohne Überlebenskampf. Menschliches Miteinander würde durch einen Bund Gleichgesinnter gestaltet, die sich gemeinsam durch das Leben bewegen. Ein WIR wäre deutlich wichtiger als ein reines ICH.
Schauen wir auf die Beschaffenheit unseres Nervensystems, ist es naheliegend, dass dieses Verhalten der Natur des Menschen viel mehr entspricht. Wir suchen Kontakt, wir regulieren uns gegenseitig, wir sind in Verbindung mit der Erde, der Natur und miteinander. Dabei ist Liebe als Haltung eine Grundzutat. Gerade in der Zukunftsforschung wird oft auf sie verwiesen, wie auch auf andere Qualitäten wie Gerechtigkeit, Vertrauen, Mut oder Menschlichkeit. Zu Ende gedacht würde die Bewertung des Lebens durch solche „Linsen“ betrachtet allem eine andere Farbe verleihen. Weil es uns von einer wettbewerbsorientierten Gesellschaft zu einer anderen, ungeübten Gesellschaftsform bringen würde: der kooperativ orientierten Gesellschaft. Gleichberechtigt. Nicht durch das Geschlecht definiert, sondern durch Fähigkeiten. Lass dir das mal auf der Zunge zergehen. Wie nah wäre das am Prinzip von Liebe? Selbst wenn wir da noch nicht als große Gruppe angekommen sind, kann ich mir gut vorstellen, dass wir es könnten. Die sehr weit entfernte Geschichte unserer Vorfahren weist deutlich darauf hin.
Vielleicht müssten wir uns nur daran erinnern? So, wie es mein Freund unabsichtlich tat. Und dann ginge es wahrhaftig nur darum, ob wir genug geliebt haben oder nicht.