Braucht der moderne Mensch noch Rituale? Meine Antwort ist: Mehr denn je. Rituale ordnen den Alltag. Jeder kennt die Einschlafrituale, die man Kindern angedeihen lässt, damit sie schlafen. Aber in Wirklichkeit gestalten wir alle unseren Tag mit verschiedensten Ritualen. Viele davon sind unbewusst. Aber sie sind immer ein Versuch, Beständigkeit zu erschaffen. Sie bieten Geborgenheit und verbinden Menschen miteinander. Hochzeit, Taufe, Eheschließung, Beerdigung – diese Rituale geben Sicherheit angesichts einer sehr unsicheren Gegenwart.
Unsicher ist die Gegenwart immer, nur blenden wir das mehr oder weniger aus. Rituale bestätigen, dass wir Teil einer Gruppe sind. Damit schaffen sie Sicherheit, aber sie schließen Fremde(s) aus. Damit sind Rituale auch die Grundlage für Streit oder gar Krieg. Rituale sind nicht starr, sie sind dynamisch. Wir verändern sie, wenn es erforderlich ist.
Traditionell feiert man Ostern und Weihnachten auch dann, wenn man kein Christ ist. Man funktioniert die christlichen Rituale in Familienfeiern um. Ein neues Ritual ist geboren. Daran erkennen wir: Rituale sind dynamisch und sie treiben Veränderung an oder sind ihr Ausdruck.
Rituale werden sogar aus anderen Kulturen importiert, weil sie die Herzen berühren. Die Gefühlsebene, die oft unterversorgt wird in einer Welt wie der unsrigen, in der das Denken so viel mehr wert zu sein scheint als das Fühlen. Polterabende, Jungesellenabschiede, Scheidungspartys, sogar Haarabschiedspartys vor der Chemotherapie werden installiert, weil man in diesen Situationen Unterstützung sucht. Daran wird sichtbar, wie wichtig Rituale sind. Wie sie uns helfen, aus schwierigen Situationen herauszukommen oder besonders schöne Situation mit besonderen Erinnerungen und vor allem mit Zeugen zu versehen.
Rituale sind so etwas wie das Gedächtnis der Natur. Sie helfen dabei, den Überblick in einer unübersichtlichen Welt zu behalten. Moralische Konzepte kann man nicht wahrnehmen, aber mit einem Ritual können sie spürbar werden. Rituale haben das Potenzial, die Menschen zusammenzuschweißen. Sie bilden den sozialen Kitt, und zwar unabhängig davon, wie das Ritual an sich aussieht. Insofern würde es sich lohnen, wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf diese Qualitäten richten würden, statt nur die trennenden Wirkungen in den Vordergrund zu stellen.
Rituale leben von der Wiederholung und damit schaffen sie Sicherheit, Verbundenheit und Vertrauen. Sie sorgen dafür, dass Glückshormone ausgeschüttet werden. Auch die Erinnerung daran sorgt schon dafür. Und sie können Zerstörung und Unheil bringen. Es liegt an uns, welche Rituale wir nutzen und wie.