Mein Blick aus dem Fenster bleibt an den Bergen hängen, die unerschütterlich in den Himmel ragen, während ich mit dem Zug an ihnen vorbeirattere. Ich nehme wahr, dass er angenehm leer ist. Ein Gewinn, den ich nicht laut zu formulieren wage, weil ich missverstanden werden könnte. Diese Leere ist mein persönlicher Gewinn, oder besser: Ich mache sie dazu. Raum haben. So wesentlich für Kreativität. Für manche Firmen ist diese Leere, dieser Stillstand, der Ruin. So verschieden kann dieselbe Sache bewertet werden.
Während ich meinen Gedanken nachhänge, sehe ich mich ganz oben auf der Bergspitze stehen und von dort die Welt beobachten. Wäre das eine Möglichkeit? Aus Sicht der Natur auf die Pandemie zu schauen und dann, von dort aus, auch auf einen Zukunftsentwurf? Was kann daran so schwer sein? Andere Perspektiven einzunehmen oder anzubieten, ist schließlich selbstverständlicher Bestandteil meines therapeutischen Alltags. Das sollte ich doch können. Und während ich diesem Gedanken folge, fällt es mir ein: Es braucht ein Wohin, um die Richtung ändern zu können.
Eine häufige Rückmeldung auf meinen Blog über Erinnerungen an die Zukunft war die Aussage: „bewegend“. Meine spontane Reaktion: „Wo bewegt er dich denn hin, mein Text?“ Die folgenden, großartigen Antworten waren allesamt mit einer Richtungsangabe verbunden. Keine, die geeignet wäre, mir einen konkreten Weg zeigen zu können, aber immerhin eine Denkrichtung.
Mir gefällt die Vorstellung, mit meinen Gedanken eine Richtung einzuschlagen und dann irgendwo anzukommen.
Mich dort umzusehen und wieder einen Gedanken aufzunehmen, seiner Richtung zu folgen und dann woanders anzukommen. Denn: In jedem Fall komme ich an und irgendwohin. Irgendwohin – eine andere Form des Wohin. Demnach könnten Anfänge überall sein und ich müsste lediglich die Richtung bestimmen. Ich spüre, wie mich diese Gedankenspiele entlasten, mir Wege zeigen. Zwar kenne ich ihre Endziele nicht, doch ich weiß, dass es ein Ziel gibt, auf das ich mich zubewege. Die entscheidende Frage in diesem Fall ist also: „Wohin will ich denken oder meine Gedanken bewegen?“ Und gleich schiebt sich eine weitere Frage dazwischen: „Was wäre, wenn meine Gedanken mich bewegen würden?“
Vielleicht trifft beides zu. Ich bewege meine Gedanken und meine Gedanken bewegen mich. Das gefällt mir. So könnte es gehen. Ja, dieses Motiv gehört definitiv in meine Zukunft: Dinge von beiden Seiten betrachten, mindestens. Oder besser von vielen Seiten. Möglicherweise sogar von allen.
Die Realität holt mich wieder ein. Ich sitze in einem leeren Zug, die Welt zieht an mir vorbei, und es genügt mir. Ich schwebe. Das Rattern der Räder auf den Schienen bildet einen monotonen Hintergrund, der geeignet ist, mich einzulullen. Ein bisschen tut er das auch – und er bringt mich zum Träumen.
Mir fällt ein, wie die Dampfmaschinen einst zum ersten Mal Menschen von A nach B brachten. Das war am 13. Februar 1804. Ich versuche mir vorzustellen, wie die Menschen von damals sich wohl gefühlt haben mögen. Der Sprung von der Postkutsche zum Ungetüm auf Schienen erscheint mir groß. Hat es da angefangen? Wurden wir als Menschheit damals so schnell? Zu schnell? Unsere natürliche Ausstattung erlaubt uns, große Träume und Visionen zu haben. Diese hat es immer gegeben, warum also sollte die Sehnsucht nach Fortschritt die Ursache für etwas Schlechtes sein? Ist der Fortschritt denn tatsächlich die Ursache für all das, was uns gerade um die Ohren fliegt? Ich merke, wie ich mich weigere, so zu denken. Darum taste ich mich an eine andere Richtung heran.
Wenn Fortschritt den Wandel braucht, dann stelle ich die Frage, wo die Wandlung stattfinden muss. Statt eines Wohin begegnet mir jetzt ein Wo. Auch das Wo kenne ich gut aus meiner Arbeit. Wenn die Not groß ist und man nicht weiß, wie man beginnen soll, dann ist die Definition des Wo der sinnvollste Anfangspunkt. Schaue ich von meinem Berg herunter, aus Sicht der Natur, würde ich sagen:
Wir sind mit unserer gesellschaftlichen Evolution definitiv an einem Punkt angekommen, der Veränderung einfordert.
Nur welche? Kann es eine geben, der wir alle folgen können? In jedem Fall wäre es gut, wenn wir eine Veränderung fänden, auf die wir uns einigen. Dazu sollten wir wissen, wie wir beschaffen sind. Nur so können wir Wo und Wohin bestimmen.
Welche Bedürfnisse dienen unserer Beschaffenheit? Sind es Grundbedürfnisse, Leistung, Macht, das Bedürfnis nach Zugehörigkeit? Wie wäre es, stattdessen unser Bedürfnis nach Selbstverwirklichung und Sinngebung als Basis aller Motivation anzuerkennen? Eine neue Möglichkeit mit alternativen Fragestellungen, die ich beliebig erweitern könnte, und in keinem Fall wären sie hierarchisch. Oder sind wir vielleicht zu satt, um überhaupt noch eine Motivation für Entwicklung zu verspüren? Vermögen wir nur im Verlust den Wert einer Sache zu erkennen? Vieles spricht dafür. Doch von der Bergspitze aus betrachtet, glaube ich nicht, dass uns solche Fragestellungen weiterbringen.
In diesem Moment ruckelt der Zug und unterbricht meine kreisenden Gedanken. Eine Mahnung, mich nicht zu verlaufen. Also kehre ich wieder an meinen Aussichtspunkt zurück. Was kann ich erkennen?
Welche Bedürfnisse habe ich? Eigentlich brauche ich Menschen. Ihr Gewirre und Gesumme fasziniert mich. Und doch fehlen mir diese Eindrücke gerade nicht. Mein Bedürfnis nach intensivem Treiben um mich herum ist seltsamerweise zurückgetreten. Offensichtlich habe ich mich eingerichtet mit den neuen Regeln, bin auf Rückzug gegangen. „Innere Einkehr“ nannte man das früher. Dieses Früher ist noch nicht mal 30 Jahre her. Geht es darum? Ist innere Einkehr der richtige Weg? Vielleicht. In jedem Fall ist zwischendurch anhalten in einer schnellen Welt nicht nur sinnvoll, sondern auch eine Herausforderung.
Wenn ich nachts unterwegs bin, nehme ich Städte und Straßen anders wahr als sonst. Geisterstädte und Geisterstraßen. Menschenleerer Anblick im Rahmen der Ausgangssperre. Eine Welt ohne Menschen hinterlässt etwas Merkwürdiges in mir. Tagsüber hasten Viele mit Masken aneinander vorbei. Angst regiert das Handeln in dieser Hast. Unangenehm. Solidarität oder Gruppenzwang? Beide Mechanismen sind wirksam und wirken sich aus. Und manchmal werden beide scheinbar zu neuen Säulen des Staates. Wie wir bewerten, bestimmt dabei maßgeblich, welche dieser Säulen wir erschaffen. Angesichts so vieler sich widersprechender Aussagen wird es schwerer, eigene Entscheidungen zu treffen und durchzuhalten. Ich spüre die Verlorenheit in all dem. Meine oder die der anderen?
Die Eindrücke der Nacht verweisen unbarmherzig auf die grotesken Notwendigkeiten einer Welt, die wir erschaffen haben. Möglicherweise unbewusst, aber immerhin gemeinsam. Betonwüsten, Straßen, Häuser, Geschäfte – sie gehören zu unserer Welt dazu. Belebt sind sie seltsam schön. Inspirierend. Pulsierend vor Leben. Jetzt springt mich eher ihre Trostlosigkeit an. Eine, die uns gehört. Wie soll ich daraus ein Narrativ für die Zukunft entwickeln? Die Antwort ist einfach: Wenn wir das eine erschaffen können, dann können wir auch das andere erschaffen.
Dazu müssen wir uns darauf besinnen, wer wir wirklich sind. Denn was könnte uns näher zusammenbringen als die Kenntnis über uns selbst?
Wieder schaue ich aus der Sicht der Natur, von oben. Wer sind wir, bevor all die Dinge auf uns draufgepackt werden, die uns zu Erwachsenen machen, zu vollwertigen Mitgliedern der Gesellschaft? Wer sind wir angesichts all dieser Oberflächenstrukturen, hinter denen verborgen bleibt, wie wir am Anfang waren? Damals, als es genug war, nur man selbst zu sein. Das führt mich zu einer meiner Lieblingsfragen: Wer bist Du, wenn alles perfekt ist?
Mich so zu definieren, empfinde ich immer wieder als befreiend. Dann bin ich nur ich und ein Teil dieser Welt. Schöpferin meiner eigenen Wirklichkeit inmitten natürlicher Schönheit.
Das wäre genug. Mehr bräuchte ich nicht. Das erinnert mich an ein Zitat aus dem Film Blow. Die Hauptfigur George nimmt eine Kassette für seinen Vater auf: „Mögest du immer Rückenwind haben und stets Sonnenschein im Gesicht, und mögen die Schicksalsstürme dich hinauftragen, auf dass du mit den Sternen tanzt.“ Welch kraftvoller Wunsch.
Er erinnert mich an die Segenswünsche, die man früher selbstverständlich Reisenden mitgegeben hat. Wir sind alle auf einer großen Reise, im Leben, durch die Krise und zu uns selbst. Vielleicht ist die Reise zu uns selbst sogar die größte Reise, auf der wir Zeit unseres Lebens sind. Für sie ist es gut, wenn wir herausfinden, wer wir sind und wer wir sein wollen.
In meinem Buch „Auf dem Weg zu Dir mit Violetta“ gehe ich entsprechenden Fragen nach und versuche dabei zu unterstützen, die eigene Beschaffenheit für sich zu klären. Wenn ich weiß, wie ich bin, kann ich tun, was mir entspricht. Es könnte uns dazu bringen, bessere Entscheidungen zu treffen und eine bessere Zukunft zu erschaffen. Eine Art Individualismus, der auch der Gemeinschaft dienen kann. Ich stelle mir eine Gesellschaft vor, in der jede(r) das beiträgt, was er am besten kann. Wie viel Zufriedenheit könnte daraus entstehen? Eine Kurskorrektur in diese Richtung würde mir gefallen. Und doch bin ich nicht frei von Bedürfnissen, schon gar nicht solchen, die man mir eingeflüstert hat.
Ein letztes Mal ruckelt der Zug, gleich muss ich aussteigen. Zeit für einen abschließenden Blick von oben
Die Pandemie spült es an die Oberfläche: Wir leben von Bedarfsweckung und Bedarfserfüllung. Wir ignorieren die Notwendigkeiten. Ein Beispiel: In der Wirtschaft orientiert man sich an Kundenwünschen. Die dringend erforderliche Nachhaltigkeit aber ist kein Kundenwunsch, sondern eine Notwendigkeit. Ist das wirklich so schwer zu erkennen?
Wir werden von außen angetrieben, und das erweist sich in Krisen selten als tragfähig. Vor allem, wenn die Krise dazu führt, dass wir von außen gezwungen werden, anzuhalten. Der innere Impuls hingegen ist der, mit dem jede Bedingung handhabbar werden kann. Weil wir wählen, weil wir entscheiden, weil wir selbstständig denken, weil wir uns ausrichten und weil wir einverstanden sind.