„Age is an issue of mind over matter. If you don’t mind, it doesn’t matter.” Dieser Ausspruch stammt vom amerikanischen Schriftsteller Mark Twain, dem wir die Geschichte von Tom Sawyer und Huckleberry Finn verdanken. Das Wortspiel ist leider nicht unmittelbar ins Deutsche übertragbar. Ich würde es so übersetzen: „Alter ist eine Frage des Geistes und nicht der Materie. Solange du dich nicht darum kümmerst, spielt es keine Rolle.“
Hat Mark Twain recht? Geht es beim Altern um mehr als den körperlichen Prozess? Geht es um die Kraft des Geistes? Altern wir besser, wenn es uns nichts ausmacht? Meine Begeisterung für Twains Formulierung ist auch nach mehreren Jahrzehnten ungebrochen. Denn ich erlebe jeden Tag, wie viel Einfluss Menschen auf ihren Zustand haben. Warum ich darüber schreibe? Weil ich mit meinen 60 Jahren alt genug bin, um genug Wissen gesammelt zu haben, aus Büchern, Studien, meinen Patienten, meinem Leben und mit mir selbst. Ich kann berechtigt sagen: Ich bin erfahren. Und das ist etwas wert. Denn Erfahrung gehört zu den wundervollen Dingen, die das Alter der Jugend voraushat. Und, wie Sie gleich sehen werden, gibt es ohne Erfahrung keine Intelligenz. Mir gefällt die Vorstellung eines intelligenten Alterns.
Intelligentes Altern: Was ist das und wie kann es gelingen? Bildnachweis: iStock/Kar-Tr
Vordergründig bedeutet Altern eine Veränderung des Körpers in seinen Eigenschaften und Qualitäten. Diese können sich mindernd auswirken und mit Verschleiß verbunden sein. Stellt man nur auf die Materialbeschaffenheit ab, dann ist der Verlust von Elastizität der augenscheinlichste. Alles wird schlaffer, faltiger und mühsamer. In der gesellschaftlich vorrangigen Betrachtung ist dieser Verlust das, was mit dem Alterungsprozess verbunden wird. Diese Sichtweise könnte man verändern, wenn man anders fragen würde: Was passiert beim Altern eigentlich genau? Gibt es ein gelingendes Altern? Wenn ja, wie sieht dieses aus? Könnte Alterung gar einen Gewinn bringen? Zur letzten Frage sage ich direkt und klar: Ja! Dieser Gewinn aber braucht Intelligenz – und zwar Ihre.
Erfahrung habe ich jede Menge und Sie auch. Sind wir deswegen intelligent? Das wäre zu erwarten. Für mich ist Intelligenz keine Frage der Bildung, sondern eine Folge von genauer Beobachtung und eigenständigem Denken. Das entspricht der Wortbedeutung von Intelligenz, nämlich dem Lateinischen intellegere – erkennen, einsehen, verstehen.
Kann Bildung dabei hilfreich sein? Definitiv. Kann sie dabei auch hinderlich sein? Ganz sicher. Vielleicht beobachten Sie sich selbst einmal. Wenn das Label wissenschaftlich bewiesen erscheint, wie ist Ihre Reaktion? Fühlen Sie sich sicherer? Glauben Sie der Person mehr, als wenn sie aus Erfahrung spricht? Ist Erfahrung eine Illusion oder ist sie etwas wert? Die Antwort können Sie sich nur selbst geben. Meine Antwort ist: Erfahrung ist viel wert, aber sie ist nicht alles. Dasselbe gilt für Wissenschaft.
Ich bin ein Fan von Wissenschaft, aber ohne einen intelligenten Prozess, der wissenschaftliche Ergebnisse nutzt und einsortiert, können diese nicht den Weg in den Alltag finden. In der Medizin liefert die Wissenschaft nie das ganze Bild. Das kann sie gar nicht, ohne sich selbst unglaubwürdig zu machen. Der Blick über den wissenschaftlichen Tellerrand lohnt sich also, denn dann kommt Ihre Erfahrung ins Spiel. Wissenschaft kann Hoffnung geben oder nehmen. Ohne diesen erweiterten Blick wird Wissenschaft zu einem Luxus, der nur Ausschnitte betrachtet, und das hat einen Preis: viele, sich teilweise widersprechende Informationsschnipsel. Das ist auch bei der Altersforschung so. Denn einerseits werden die Verschleißerscheinungen untersucht, die nachlassende Funktion des Gehirns – und dementsprechend fallen die Ergebnisse aus: Man lernt vor allem etwas über die Verlustseite des Alterns. Andererseits finden sich Erkenntnisse, dass das Gehirn auch im Alter noch neue Zellen bilden kann und es sich zudem weiterhin verändert. Dieses Prinzip heißt Neuroplastizität. Es bedeutet, dass sich das Gehirn permanent an Veränderung anpasst und für eine Optimierung zellulärer Abläufe sorgt. Klingt schon besser, oder?
Das Gehirn ist kein Muskel. Es reicht also nicht, wenn Sie etwas üben, ohne daran Freude zu haben. Neuroplastizität braucht Freude und Hingabe. Auch hier gibt es eine Studie, die sogenannte Nonnenstudie*, mit der 2009 bahnbrechende Erkenntnisse die neurowissenschaftliche Welt auf den Kopf stellten. In dieser Studie ging es darum herauszufinden, ob die bestehende Theorie zum Alzheimer-Gehirn stimmte, derzufolge Plaque-Ablagerungen die alleinige Ursache der gefürchteten Alterserkrankung waren. Zunächst schien sich dies auch zu bestätigen. Doch dann entdeckte das Forscherteam „eines der schlimmsten Alzheimergehirne, das wir jemals hatten“ (Snowden). Dieses vermeintliche Alzheimergehirn gehörte Schwester Bernadette, doch diese war bis zu ihrem Tod sehr aktiv und geistig fit gewesen. So wurde die Theorie als unrichtig entlarvt und der Fokus der Betrachtung veränderte sich. Heute weiß man, dass der Lebensstil viel mehr Einfluss auf die geistige Fitness hat, als vorher angenommen. Arbeit, Muße, Enthaltsamkeit, Freude: All das gehört zu einem normalen Leben dazu – auch im Alter.
Mit der Erkenntnis, dass sich im Gehirn immer wieder neue Strukturen bilden, um Zerstörtes auszugleichen, fühlt es sich anders an. Wir haben Einfluss! Ein geistig und körperlich aktives Leben wirkt sich aus – immer.
Gesucht: ein ideales Konzept für gutes Altern! Bildnachweis: iStock.com/Inside Creative House
Wenn jeder rein wissenschaftlichen Erkenntnis die Zutat Erfahrung fehlt, um ihre Auswirkung erfassen zu können, entsteht daraus die Frage: Warum hilft Erfahrung uns nicht auch beim Altern? Altern beginnt mit dem Zeitpunkt der Geburt. Biochemisch nennt man diesen Prozess Oxidation. Im Alltag heißt er schlicht rosten. Welche Bedeutung hat das für uns? Nicht jede Aussage über Gesundheit trifft auf jeden zu. Ich ermutige die Menschen, auf den eigenen Körper zu hören. Dazu braucht es einen unmittelbaren Kontakt zu diesem Körper, der auch dann abrufbar ist, wenn sich alles gut anfühlt, wenn es nicht weh tut. Die Gestaltung des Lebensabschnittes ab 60 ist individuell und jede Version kann perfekt sein – für die jeweilige Person.
Viele Menschen sind auf der Suche nach ihrem perfekten Lebensmodell. Tatsächlich gibt es immer nur das Lebensmodell, das Sie leben oder in das Sie Ihr Leben hineinfüllen. Dann kann auch die einfachste Version zu etwas Großartigem werden. Meiner Erfahrung nach ist es auch schon vor Erreichen der 40 sinnvoll, auf sich zu achten und dem eigenen Leben Bedeutsamkeit zu geben. Je früher Sie beginnen, mit sich selbst gut umzugehen, desto höher wird die Wahrscheinlichkeit, dass Sie gut altern. Dazu gehört auch ein vitales Lebensgefühl. Dafür ist es nie zu spät, und die gute Nachricht ist, Sie erreichen auch dann etwas, wenn Sie erst jetzt damit anfangen. Wichtig ist Ihr eigenes Mindset, und dem wende ich mich jetzt zu.
Das eigene Denken wirkt erheblich auf unseren Zustand ein. Dabei bin ich weit entfernt vom „Schönreden“. Wenn ich mir jeden Tag einreden muss, dass mein Leben schön ist, dann stimmt definitiv etwas nicht. Manchmal ist das Leben einfach nicht schön und es ist besser, es zu sehen, wie es ist, und das als Startpunkt anzunehmen. Dann kann man an der Veränderung arbeiten. Wissenschaftlich betrachtet ist es so, dass im Körper ein Stresszustand entsteht, wenn immer alles anders sein soll, als es ist. Das Gehirn erzeugt dann einen Cocktail aus Botenstoffen für Stress oder Gefahr. Das wiederum mindert die Regenerationsfähigkeit, was langfristig mehr Alterung bedeutet. Ein schlichter Punkt: Permanente Sorge verstellt mir nicht nur die Gegenwart, sondern behindert meine Fähigkeit, bessere Lösungen zu finden.
Und wie ist es andersherum? Wenn mein Startpunkt in grundsätzlich vertrauensvollem Umgang mit dem Alterungsprozess liegt und ich dafür eine Verantwortung übernehme, erzeugt mein Gehirn einen Botenstoffcocktail, der Regeneration einschließt. Das impliziert auch eine realistische Einschätzung der aktuellen Situation. Eine vielleicht heraufordernde Situation anzunehmen, ist nicht mit Aufgeben, Unterordnen oder Sich-Ohnmächtig-Fühlen verbunden. Vielmehr beginnt mit dem Annehmen der erste Schritt der Veränderung. Denn niemand hat auf alles Einfluss, was das Leben bringt und uns manchmal vor die Füße wirft. Aber jeder hat maximalen Einfluss auf die eigene Wahrnehmung und Bewertung von Ereignissen. Dazu gehört, die eigenen Ansichten, den eigenen Körper und die Lebenssituation zu kennen und anzuerkennen.
Gene sind ein Teil der biologischen Ausstattung für das Altern. Unsere biologische Ausstattung erlaubt uns grundsätzlich gut zu leben und zu altern. Jeder muss lernen, diese Ausstattung auszuloten und sich mit ihr zu verbinden. Sie kennen die typischen Beschwerden, die in Ihrer Familie häufig auftreten. Aus der Erfahrung mit sich selbst wissen Sie, wie Sie ihre Kraft einteilen müssen, wie viel Schlaf günstig für Sie ist und mit welcher Nahrung Sie sich wohl fühlen. In der Regel weiß jeder Mensch, was sich nachteilig auswirkt. All das ist unabhängig von den Genen. Es hängt davon ab, wie gut Sie sich mit sich auskennen. Ich nenne es das eigene Design. Damit meine ich die Beschaffenheit, die zu einer Person gehört.
Intelligentes Altern: Wie viel hat das mit der genetischen Ausstattung zu tun? Bildnachweis: iStock.com/greenleaf123
Haben Sie auch jemanden im engeren Kreis, der besonders gut altert und wenig Beschwerden hat? Was macht er anders? Oft ist es die Vorstellung, die unseren Zustand mitgestaltet, und zwar zunächst einfach biochemisch. All das, was Sie denken und fühlen, setzt Ihr Körper unmittelbar in einen biochemischen Botenstoffcocktail um, und zwar unmittelbar. Dieser Botenstoffcocktail bestehend aus Hormonen, Neurotransmittern und Zytokinen beeinflusst den gesamten Körper. Wenn Sie sich freuen, profitiert Ihr Immunsystem – immer. Wenn Sie traurig sind, schwächen Sie es. Darüber hinaus passen sich auch Ihre Hormondrüsen und Ihr Gehirn an. Denn im Körper arbeiten alle Strukturen zusammen, und zwar zum gegenseitigen Vorteil. Das finde ich vorbildlich und wir könnten der Natur diesbezüglich durchaus nacheifern. Normalerweise pendeln Menschen zwischen verschiedenen Gefühlslagen hin und her. Insofern sind unsere Gedanken zwar frei, doch immer auch kraftvoll und es lohnt sich, sie gut zu richten. Für heute nur so viel: Gegen das Altern zu kämpfen, macht es schlimmer. In Würde gut zu altern, ist die wahre Herausforderung. Um diese annehmen zu können, braucht man Bewusstsein und Beharrlichkeit. Beides kann man üben, und auch dazu lade ich Sie ein.
In jedem Fall. Ist Alter umkehrbar? Das sicher nicht, aber Sie können jederzeit auf Ihren Alterungsprozess einwirken. Lassen Sie mich meine Kernaussagen zusammenfassen: Jeder Mensch verfügt über eine individuelle Ausstattung und über eigene, intelligente Erfahrung. Diese beeinflusst Krankheit und Gesundheit. Unsere Aufgabe besteht darin, sich mit der speziellen, menschlichen Form des Alterns zu verbinden und sie zu beeinflussen. Die Natur hat uns mit allen Werkzeugen ausgestattet. Diese entfalten sich, wenn wir uns artgerecht verhalten. Doch was heißt artgerecht und wie schafft man es, sich mit artfremdem Verhalten nicht mehr unnötig zu schaden? Genug Bewegung, gute Ernährung und geistige Herausforderungen sind die Zutaten für diesen Prozess. Wissenschaftliche Erkenntnisse können Sie inspirieren und Sie sind herausgefordert, mit ihnen intelligent umzugehen. Um all das wird es in meinen Beiträgen hier auf VITALISSIMO gehen. Zum Anfang ist es vor allem wesentlich, den eigenen Zustand zu kennen. Sie müssen nicht darauf warten, bis Sie im fortgeschrittenen Alter angekommen sind, um sich damit auseinanderzusetzen. Aber umgekehrt ist es auch nie zu spät für eine Veränderung.
Und wie sieht Ihr Bild von intelligentem Altern aus? Bildnachweis: iStock.com/Rawpixel
Für den Prozess auf diesem Weg empfehle ich, die eigenen Gedanken zu notieren. Machen Sie es sich einfach dabei. Immer nur einen Schritt nach dem anderen. Am Ende jedes Artikels werde ich eine Inspirationsaufgabe stellen. Ihre Notizen erlauben Ihnen, sich noch besser kennenzulernen und eigene Vorstellungen zu entwickeln. Diese Notizen sind nur für Sie. Niemand außer Ihnen wird sie lesen, es sei denn, Sie möchten sie teilen. Schreiben Sie nicht alles auf einmal, sondern beobachten Sie Ihre Gedanken und wie diese auf Sie wirken.
Thema: Der eigene Startpunkt
Sammeln Sie alle Vorstellungen, die Sie zum Thema Alter und Ihren Erfahrungen damit haben. Hier geht es mehr um Beobachtung und Bewusstmachung. Schreiben Sie sie auf. Wenn Sie gerne schreiben, dann beginnen Sie jetzt mit Ihrem Alterstagebuch. Wenn Sie nicht gerne schreiben, machen Sie einfach zwei Listen: eine für die Negativbewertung und eine für die Positivbewertung von Alter. Suchen Sie etwas, was Sie begeistert und herausfordert. Es lohnt sich ganz sicher.
*Neurology. 2009 Sep 1; 73(9): 665–673. doi: 10.1212/WNL.0b013e3181b01077 PMCID: PMC2734290 PMID: 19587326
The Nun Study. Clinically silent AD, neuronal hypertrophy, and linguistic skills in early life
D Iacono, MD, PhD, W R. Markesbery, MD, M Gross, PhD, O Pletnikova, MD, G Rudow, BS, P Zandi, PhD, and J C. Troncoso, MD